Es ist schon eine Zeit her, als ich mir an einem Abend nach getaner Arbeit die Entspannungsfreude machte, einen Blick in den Fernseher zu werfen. Wenn ich den Kasten mit der Mattscheibe im Rahmen einer kurzfristigen Unterhaltung in Betracht ziehe, so ist es mit Vorliebe der arte-Kanal mit seinen vielseitigen, informativen, kulturell ausgewogenen, erfrischenden und schöngeistigen Programmen. Es gibt viele TV-Sender in unserer heutigen kommerzialisierten, teilweise verwahrlosten Mediengesellschaft, die zu einem Denkanstoß oder auch zu der Metapher von Theodor von Fontane führen, zieht man TV-Kanäle und ihre Programme in den Vergleich: „Erst die Fremde (Verwahrlosung) lehrt uns, was wir an der Heimat (edel) haben“. Die Heimat, der geistige Genuss, ist das was durch das Programm von arte vermittelt wird. Toleranz und Dialog sind die Basis für einen Zeitgeist, der das Abschütteln von verwelktem Lebensblattwerk und das Entstehen von erfrischenden Lebensknospen möglich macht. Eine Lebensphilosophie, die sich mehr dem 21. Jahrhundert offen zeigt, als jene, die schon im sechsten Jahrhundert vorchristlicher Zeitrechnung das Licht der Welt erblickte. So war es mir beschieden, eine Sendung auszuwählen, die mich interessierte und mir wichtig schien, und so erfuhr ich von dem kulturellen Leben eines Bauerngehöfts in Südtirol. Nachdem ich diese Reportage mit ausreichender Aufmerksamkeit verfolgt hatte, wurde ich mit innerer Genugtuung und Wohlempfinden an so manches Erleben, insbesondere aus meiner Kindheit erinnert, mit unterschiedlichen Haltepunkten und Momentaufnahmen zurückliegender Landschaftsbegegnungen mit Mensch und Tier. Nachdem ich diese Lebenspoesie als einen Teil meiner Aufenthaltswünsche aufgenommen hatte, ergriff mich ein beglückendes Gefühl von Befriedigung glücklicher Umstände.
Kurz entschlossen schrieb ich das Almengehöft Pretzhof in Prati di Vizze an, um meinen Eindruck und mein Empfinden über die TV-Berichterstattung auszudrücken, wie sehr mich der menschliche, ökonomische und ökologische Umgang mit der Kreatur sowie der Nutzbringung von genussreichen Köstlichkeiten fasziniert hatte. Ein seit dem 13. Jahrhundert existierender Familienbesitz, bestehend aus der Alm, dem Gehöft, den Tieren, einem Restaurant mit höchster Kochkunst in archaischen, idyllischen Kulissen präsentiert sich in einem Landschaftsbild, dem irdischen Paradies, so wie mir schien, ein Kleinod mit besonderer Strahlkraft.
Um mir ein persönliches Erlebnisbild einzufangen, begrenzte ich meine Neugierde zunächst auf den Genuss der Almenprodukte, die in dieser Reportage als etwas Erfüllendes vorgestellt wurden. Es wird sich noch zeigen, wie wichtig es ist, sich die Neugierde als etwas Wichtiges zu bewahren. Schon deshalb, um nicht einer beschriebenen Fata Morgana in den Hochalpen anheim zu fallen. Alles was ich vernommen hatte, ohne Abstriche, löste in mir ein Bedürfnis aus, mich von meinem Empfinden vor Ort persönlich zu überzeugen. Aufgrund der Berichterstattung konnten mich meine Persönlichkeitskriterien nicht dazu veranlassen, die Erwartungshaltung außerhalb von Realitäten zu parken. Es begann zunächst ein E-Mail-Austausch mit der fragenden Ankündigung, ob die im Report vorgestellten Köstlichkeiten auch in den Verkauf gehen und falls ja, auf welchem Wege ich davon Gebrauch machen könnte. Die liebenswerte Antwort von Sonja Sorarui, die Tochter von Familie Ulli & Karl Mair, ließ keinen Zweifel erkennen, meinen Wunschzettel in kulinarische Erfüllung zu geben. Die Freude durch das Teilen meiner genussreichen Pretzhof-Köstlichkeiten, die ich im engsten Kreise meiner Lieben und Freunde habe erzielen können, bestätigte mein Empfinden, eine Oase längst vergangener Zeiten wiederentdeckt zu haben, meine Erwartungen wurden mehr erfüllt, als sie ahnen ließen.
Der weitere Gedankenaustausch hatte letztlich dazu geführt, dass ein persönliches Kennenlernen von beiden Seiten erwünscht war. Die beruflichen Verantwortlichkeiten ließen so manchen angedachten Begegnungstermin wie ein welkes Blatt im Gebirgsbach entschwinden. Und doch gab es in mir ein Drängen, die Stätte der besonderen Verheißung aufzusuchen.
Da die Wondrak de Temple GbR nach einem Jahr Renovierungs- und Restaurierungszeit das ehemalige Restaurant Sonne in Johannesberg in neuem Stil und Glanze entstehen ließ und in die Auberge de Temple wandelte, gab es immer wieder das auftretende Bedürfnis, Inspirationen einzufangen, die das Bestehende mit wagemutigem Blick nach vorne innovativ möglich machen würden. Was lag da näher, als die längst gehegte Absicht, zum Pretzhof zu reisen, zu realisieren, um Eindrücke und Begegnungen zu ermöglichen. Ich verfasste eine E-Mail und kündigte an, welche Terminierung ich für den ersten Augenblick angedacht hatte. Sonja, die sich der freundschaftlichen, herzlichen Kommunikation hingebungsvoll zuwendete, konnte dem Begegnungstermin mit einer Veränderung zustimmen.
Tags darauf lag es in meiner Verantwortung, an einem Architektengespräch teilzunehmen, um in dem Projekt Auberge de Temple bauliche Ergänzungen zu diskutieren und einvernehmlich abzuklären. Der Diskurs war für die Mittagszeit im Restaurant der Auberge de Temple in einer Tafelrunde vorgesehen.
Als ich in das Restaurant eintraf, wanderten meine Blicke prüfend in alle Richtungen und ich wurde überrascht, dass meine Freunde Helga und Hans Wondrak der mittäglichen Genüsslichkeit den Vortritt gaben. Kurz entschlossen begrüßte ich die ebenfalls Erstaunten im Stile einer Rosamunde Pilcher-Passage und gesellte mich für einen gedehnten Augenblick zu ihnen an den Tisch. Eine Tasse Kaffee, die ich bestellte, säumte den kulinarischen Mittagstisch, der mich immer wieder zu verführen drohte, den Kalorien, trotz allem Zuspruch, zu trotzen. Während Helga und Hans mit den Esswerkzeugen in der Hand dem Nutzungsrecht gehorchten, informierte ich beide im Rahmen überbrückender Kommunikation, in en-passant-Manier, über meine Absicht, kurzfristig für drei Tage nach Südtirol zu fahren, um einen längst geplanten und überfälligen Besuch im Wiesental zu absolvieren. Ohne zu ahnen, welche von Glück getragene Reaktion diese Botschaft auslöste, bekundete Helga, dass diese Region Hans‘ liebster Urlaubsort in zurückliegen Jahren gewesen war. Schnell erkannte ich für mich die bereichernde, so auch begünstigte Chance, nicht alleine, sondern in unterhaltsamer Weise den Hans als Mitgestalter für diese romantisierte Reise zu gewinnen, natürlich mit List und Tücke. Von seiner Tochter Christine Wondrak, sie ist Mitgesellschafterin der Auberge de Temple, wusste ich, dass mein Freund, ihr Vater Hans, je nach Sachthemen und Aufgabenstellung etwas zögerlich ist. Er ist also ein Zauderer. Hans ist nicht nur mit einer gebrauchsfähigen Intelligenz ausgerüstet, sondern auch mit einer Lebenssensibilität, die wittert, wenn sich etwas an Komplexität anschleicht. Wer die Töchter von Hans, Isabel und Christine kennt, versteht den Hinweis: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“. Eine enthusiastische Einladung durch mich, Hans den Zauderer, dazu zu bewegen, dass er den Trip nach Südtirol mit Aufschrei begrüßen würde, war nicht dem erwarteten Preis gegeben, aber in einem verschmitzten Lächeln als Antwort gelagert. Ich meinte dennoch gehört zu haben „Wie lange, wie viel Tage?“ Ich meine, gesagt zu haben „Drei Tage“. Nun jeder, so auch Hans wie auch ich hat seine Eigenarten, die nicht abtrünnig, verzichtend gemeint sind. In solchen plötzlichen und unerwarteten Entscheidungsmodellen ein Zauderer zu sein, ist dennoch amüsant, besonders dann, wenn ein Zweitbegünstigter in Lauerstellung steht und meinem Vorschlag glorreiches, begünstigtes hinzufügt. Durch das folkloristische Vorpreschen von Helga, die eine nützliche Gelegenheit von Stunden einer gemütlichen Hausatmosphäre für sich witterte, kam es zu einem Tischergebnis, das durch Kopfnicken und etwas schwimmend Zustimmung signalisierte. Die letzte Gabel von Speise, die die Zähne beschäftigte, verhinderte ein kräftiges Ja, und ich deutete deshalb an, dass einen Tag vor der geplanten Abreise ein Anruf von mir das endgültige Ja einer Zustimmung erhoffte. Helga nickte gar heftig und meinte, damit die bereits verspeiste Suppe, die Reisegelegenheit, nochmals mit Beschwingtheit nachzuwürzen.
Meine Gesprächspartner am anderen Tisch, einer davon war Johnny Verkempinck, der aus Oostende in Belgien angereist war, von dem ich mich abkommandierte, um meine Freunde Helga und Hans zu begrüßen, drängten und ermahnten mich, zur Disziplin zurückzukehren, die mich aber wiederholt konstruktiv an Hans noch sagen ließ, dass ich tags darauf bei ihm zu Hause anrufen würde, um seine unwiderrufliche Entscheidung zur Mitfahrgelegenheit zu erfahren. Natürlich war es für mich etwas sehr Angenehmes, wenn man ca. 560 km wechselseitig die besitzergreifende Monotonie durch Lippengymnastik erst gar nicht entstehen lässt. Da dem Hans der Freundschaftscharakter und dessen Ansprüche sehr wichtig sind, vergatterte ich ihn etwas vernebelt in der Wortwahl mit dem Wunsche, mir einen Gefallen zu tun. Dem konnte er sich nicht entziehen und quittierte dies mit dem für ihn typisch verschmitzten Lächeln, das sein Augenpaar wohlwollend zierte. Ich verabschiedete mich unter dem Siegel, nichts anderes per Telefon zu erfahren, als dass er mit mir reist: listig von mir, das Ganze mit dem Zusatz der Hilfestellung eingepackt. Das war letzten Endes auch das, was sein Gewissen aufmuntern ließ, das erwartete Ja in den Telefonhörer einzuhauchen. Wie verabredet rief ich einen Tag später an. Am Hörer war Helga, die mich wissen ließ, dass sich Hans über diese Reise sehr freuen würde. Mit der gewagten Unterstellung meinerseits war das „sehr“ mit Sicherheit eine Interpretation von der lieben Helga, das ergänzend hinzugefügt wurde, um damit mehr gesichert zu haben, dass kein Zweifel aufkommt, der Freiheitslust von 3 Tagen, bzw. nichts Gegenteiliges zur paradiesischen Sehnsucht aufkommen zu lassen. Der Anruf erfolgte, der Zuspruch, das Vorhaben gemeinsam zu absolvieren, war geboren. Ich empfand Genugtuung, diesem Reiseentwurf zu genügen. Der Abholzeitpunkt war Donnerstag, 6 Uhr am Morgen. Morgenstund hat Gold im Mund, so war es auch.
Es war 4.30 Uhr, einen Wecker zum Erwachen brauche ich niemals. Alles eine Frage der Verinnerlichung zur gestellten Aufgabe, was ich anderen über sehr viele Jahre in verblüffender Weise vorexerzierte.
Ich machte mich fertig, packte die sieben Sachen, die sich für 3 Tage als ausreichend angeboten hatten. Keinen sperrigen Ballast, aber mit einem überschaubaren Präsent für jene, denen ich mit Freude begegnen und die ich im Rosamunde-Flair begrüßen wollte. Alles also im Rahmen der Minimalisierung, keinerlei Übertreibung. Eine herzliche Umarmung von meiner lieben Frau und ich fuhr von dannen, um der erwarteten Pünktlichkeit, wie ich sie von Hans zur Genüge kennengelernt hatte, in nichts nachzustehen. Mein Freund Hans ist die Ausgeburt von Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. Sein Wort hat immer Gültigkeit, sofern sein Lebensumstand es möglich macht.
Donnerstag, 6 Uhr, pünktlich am frühen Morgen vor dem Tore von Hans ansprechender Häuslichkeit. Herrlich, dieser Tag, wie er sich schon angekündigt hatte, mit einem sonnendurchfluteten Äther, der alles versprach, was den Reisenden beglückt. Jungfräulicher Sonnenaufgang, leicht bewölkt, von einer erquickend frischen Brise, die den Eindruck vermittelte, eine fünfstündige Reise mit den Erwartungen bestückt zu bekommen, um Eindrücke mit Lustbarkeit wohlbehalten zu konservieren, die sich während der Fahrt anbieten und für Erzählungen für Zurückgelassene auskosten lassen würden. Hans‘ Ausrüstung war ebenfalls auf das Notwendigste beschränkt. Das war etwas ungewöhnlich, wenn ich die 3 Tage in Betracht zog. In seiner Hand ein Behältnis, richtiger eine Tüte, in der sich die zur Rekonvaleszenz gehörenden Nahrungsattribute befanden – Banane und Wasser. Der Tatsache geschuldet, dass Hans Monate zuvor von einer lebensbedrohenden Krankheit erfasst wurde, war es weder gewagt noch nachteilig, sich diese Romanze als Therapie entgehen zu lassen. Das Krankheitsbild ergab die dringende Notwendigkeit, dass Hans sich konsequenterweise einem invasiven Eingriff unterziehen musste. Der Ausgang war ambivalent. Dank seines eigenen Willens und der vitalen körperlichen Verfassung vor der Diagnose, die zuerst ein Himmelfahrtskommando prognostizierte, und Dank des überzeugten Festhaltens am Leben gelang es ihm, mit der Hilfe außergewöhnlicher operativer Fachkompetenz, die Himmelfahrt mit einer Fahrt in den Süden Tirols und zu weiteren Erlebnisinseln einzutauschen. Ein Aufbruch aus dem Tal der dunklen Grotten. Hurra – Hurra, wir leben noch.
Wir wünschten uns einen guten Morgen, grinsten über beide Ohren und belegten im Wagen die Plätze, die sich als sehr komfortabel anboten. Ich am Steuer, Hans daneben. Die Wegstrecke sollte bequem, entspannt und nicht als anstrengend empfunden werden. Die Türen geschlossen, den Navigator eingerichtet, damit wir nicht in die falsche Richtung fahren. Wir wünschten uns gegenseitig einen erkenntnisreichen, glückbestimmenden Tag.
Kaum hörbar bewegte sich das Fahrzeug auf der abschüssigen Strasse zur ersten Kreuzung, dann links, geradeaus, dann rechts in Richtung Autobahn. Kaum losgefahren, schon fragte mich Hans, den Kopf zur Armbanduhr gesenkt: „Zu welcher Zeit sind wir heute Abend wieder zurück?“ Ich stutze für einen Moment und sagte ihm genauso profan wie gefragt: „Gar nicht, mein Lieber! Mitgehangen, mitgefangen!“ und lächelte dabei. Auch seine Frage war mit einem Lächeln belegt, so dass es mir möglich war, die am frühen Morgen aufgetischte Satire so einzuordnen, wo sie hingehört, nämlich in ein frühmorgendliches Auffrischen von geistiger Ironie. Ohne mir etwas anmerken zu lassen, stutzte ich schon über den Ursprung seines Heimwehbegehrens nach ein paar Metern Bewegung in die richtige Richtung. Vertiefen wollte ich es nicht, um die Gefahr, sich in solche Elemente einbinden zu lassen, mich dazu zu bewegen, dem Mitempfinden übersteigerte Sensibilität zukommen zu lassen. Nüchternheit und Ignoranz in menschlicher Weise. Das ist möglich, gerade unter Freunden. Satire, Ironie oder welch kabarettistischem Schwank auch immer Hans am frühen Morgen zugedacht war, die Ernsthaftigkeit konnte durch ein wiederholtes Nachfragen seines Begehrens nicht ganz entkräftet werden. Allein sein taktisch wohl konstruierter Begründungshinweis, er habe ja nur ein Hemd zum Wechseln dabei, ließ mich aufhören und baute meine eigene Überlegung auf, wie ich diesem Empfinden Paroli bieten könnte. Meine Position war ohne Zweifel. Weiterfahren, und zwar in einem verantwortungsvollen Tempo. Nochmals drehte sich das hansische Hamsterrad mit der Aussage, der ich nicht nachgesucht hatte, nur ein Hemd zum Wechseln zu haben. „Großartig“ sagte ich ihm. „Du hast eben das richtige, kontrollierte Verständnis für den Begriff ausreichend. Ich beglückwünsche Dich dafür.“ Und sein Lächeln erfüllte sich in den Zutaten einer langsam beginnenden Komödie. „Vielleicht brauche ich nichts dergleichen, wenn wir heute wieder zurück sind.“ Ich entgegnete ihm: „Mache Dir deswegen keine Sorgen, lieber Hans, das Problem löst jeder Konsumtempel, wenn ein solches aufkommen könnte, was ich weder glaube, noch davon überzeugt bin. Du wirst nicht in die Verlegenheit kommen, bei einem Schönheitswettbewerb teilnehmen zu müssen, um andere auszustechen oder gar die Krone zu erwerben. Und zudem möchte ich anmerken, dass wir zum Pretzhof ins Paradies von Mensch und Kreatur fahren und nicht zu einer Alpen-Haut Couture geladen sind.“ Das zuvor still vor sich dahinlebende verschmitze Lächeln erhielt einen hörbaren Laut. Die Komödie nahm ihren Gang und gewann an Gestalt. „Und zudem braucht man für den Trip, den wir uns erwählt haben, überhaupt kein weiteres Hemd. Wir verweilen in einer Umgebung, die so rein ist, wie das Gebirgswasser, von dem wir kosten werden. Und im weiteren meiner Vorsorge- wenn wir länger am Ankunftsort ausharren wollen, oder vielmehr werden, das kommt der Sache näher, wenn ich Deine Gedanken richtig interpretiere, so habe ich Reserve. Und der Quell mit reinstem Wasser, das Lebenselixier von göttlichem Zugeständnis, nach dem wir trachten, ohne jegliche Zusätze (Weichspüler), wäscht so rein, reiner geht es nicht mehr. Ein Hemd, von der Natur gebleicht, welch eine Wonne, lieber Hans. Welch einer glücklichen Zeit begeben wir uns in die Hände.“ Je mehr er versuchte, sich auf einen Tag zu beschränken, desto aussichtsreicher ließ ich ihn wissen, dass es für mich ein Einfaches ist, sofern das Ambiente uns dazu veranlasst, aus einem Tage, auch eine oder zwei Wochen einzuläuten. Ich sagte ihm „wir lassen mal alles auf uns wirken und die Gefahr, dass wir länger in Deinem geliebten Südtirol verbleiben, ist nicht von der Hand zu weisen.“ Und dieses Szenario, den Aufenthalt auszudehnen, schmückte ich noch aus mit Erinnerungen aus einer längst vergangenen Erlebniswelt, die ich in den siebzig Jahren weit weg von romantischen Einflüssen erfahren durfte. Und nicht nur ich erfüllte das Wageninnere mit Essays aus der Vergangenheit. Es folgte ein Fragen- und Antwortspiel, ein Erfahren von Geschichten, die betont wurden mit dem Fingerzeig in die Landschaft.
Solche von mir gegebenen belustigenden Anekdoten reduzierten sein Ansinnen einer Ein-Tages-Exkursion und erhöhten zudem den Abstand vom Startplatz. Diese nette prosaische Einspielung in unterschiedlichen Zeit- und Kilometerkorridoren entlastete das Thema Rückfahrtszeitpunkt. In meinem Innern genügte mir der amüsierende Wortwechsel, wie schon erwähnt: mitgehangen-mitgefangen. Da Hans, so möchte ich wagen, ihm das zu unterstellen, mit musikalischem italienischen Rhythmus (z. B. „Die Glocken von Rom“ wird sehr oft in HR4 zum Besten gegeben) in den Jahren zuvor schon viele Male die Strecke Seligenstadt – Bozen Südtirol abgefahren hatte, war er mir mehr als ein monotoner elektronischer Navigator. Mit Aufmerksamkeit ein besonderer Hinweisgeber von Landschaften und deren architektonischen, archaischen Bausubstanzen als Zierrat, was das blickende Auge – nein – unsere Augen aus Erinnerungen nährte. Und so flachte das plötzliche, unerwartet aufgekommene 5-Minutenheimweh ab, nachdem der Ort der Gewohnheiten verlassen wurde, entzaubert und durch weitere Erwartungsimpressionen jener Grundlage entzogen, die darauf pochen wollten, den Anreisetag zum Rückreisetag zu deklarieren. Die erreichte Gemeinsamkeit hatte noch nicht das Fundament, was einen ruhigen Schlaf garantierten würde, aber doch in der Nähe außerhalb von schweißgebadeten Albträumen zu sehen war, was sich später auch als gültig herausstellte.
Die Fahrt wurde wenig beeinträchtigt von multidisziplinären Fahrkünstlern. Es fand noch keine Ermächtigung zum Stopp und Go statt. Zügig wurden wir animiert, dem Verkehrsfluss zu folgen. Ungewöhnlich, diese Autobahnfreiheit. Um das Ablenkungsmanöver gegenüber Hans bei Laune und lebendig zu halten, verirrte ich mich mit der Frage an Hans: „Gibt es schon Schulferien?“ „Ich glaube noch nicht!“ so seine Antwort. „Wann finden diese statt, Hans?“ „Ende Juli vielleicht.“ „Hervorragend Hans! So erschließt sich vielleicht eine auskömmliche Verweilzeit im Almenparadies.“ Ein zurückweisendes Lächeln im Antlitz von Hans ließ mich verstehen, dass mein lyrisches Gedankenspiel nicht sein da capo fand. Wir waren im Bereich von Kempten, wo es ihm in den Sinn kam, vom Erlebten im Kreise seiner Verwandtschaft zu berichten. So dozierte er Erlebniswelten, die ich nutzte, die Erinnerungen in die Gegenwart zu reformieren, wo der Vergleich in seinem Ergebnis dem zeitgenössischen Realismus entsprach. So wechselten wir von Thema zu Thema und beinah übersah ich die in großen Lettern angekündigte Aufforderung, dem Vignettekauf nachzukommen. Eine von mir geübte Handbewegung verdeutlichte, was ich von einer solchen Aufforderung halte. Das beunruhigte Hans. Er war in Sorge um meine Unbekümmertheit und legte mir die schützende Notwendigkeit nahe, was alles mit mir geschehen würde, wenn ich mich der Zahlungsaufforderung des Vignettenkaufs widersetzte.
Gescheckt
Sein gebetshaftes, ritualisiertes Eindringen in meine noch sperrigen Hirnareale, mein Weigern, mich dem Schicksal auszuliefern, widersprach seiner Freundschaftsüberzeugung und veranlasste mich, an einer Tankstelle eine kurze Pause zu machen, was auch im Rahmen seiner Rekonvaleszenz zu sehen war. Also fuhren wir zur Tankstelle und Hans folgte seiner geistigen Ordnung, schnurstracks an den Vignetteschalter zu gelangen, bevor von mir nochmals jedwede Fatalität als Option zur Disposition gebracht werden würde. Nicht jeder, auch nicht ein guter Freund, kann sich mit der individuellen Läuterung vergnügen, mit der Maßnahme, dass man Regeln unterbrechen oder kurzzeitig verlassen muss, insbesondere dann, wenn es meine eigenen sind.
Nachdem der Autobahnmeisterei Genüge getan wurde, Hans sich in der Regel-Balance befand, kam mir in den Sinn, uns noch eine Tasse Kaffee zu gönnen. Gesagt getan traten wir in die Räumlichkeiten ein, wo Getränke und Fressalien aller Art zur Leibesstärke und -fülle erwünscht werden konnten. Das Ambiente war luftdurchflutet und ausgesprochen mit Licht erfüllt. Ein Glaskasten gediegener Architektur. Freundlich das morgendliche Hallelujah mit entsprechendem Widerhall, das Ausspähen der Platzeinnahme ließ uns an die Theke gehen. Eine freundliche Dame, sie war noch etwas im Gespräch, hat uns rätseln lassen, in welchem Teil der Welt sie wohl zu Hause sei. Nachdem sie sich uns zugewandt hatte und fragte, was unsere Wünsche wären, entgegnete ich ihr, dass sie die wohl nicht erfüllen könnte, deshalb würden wir uns mit je einer Tasse Kaffee begnügen. Während die Kaffeemaschine das Wasser braun färbte, kam mir in den Sinn, eine Quizshow mit ihr zu veranstalten mit der Frage, aus welchem Teil dieser Erde sie wohl entrückt sei. Aus der von uns wahrgenommenen Spracheinblendung ohne künstlerische Phrasierungen konnte vermutet werden, dass sie der südöstlichen Richtung angesiedelt sei. Sie antwortete mit der Gegenfrage: „Was meinen Sie, woher ich komme?“ „Da ich schon viele Länder bereist habe, verfrachte ich sie nach Jugoslawien.“ Ein sehr angenehmes, freundliches Lächeln ließ uns verstehen, dass nicht wir, sondern sie das Quiz gewonnen hatte. Unser Nachfragen wurde quittiert mit dem Land Polen. Ohne den Pass als Nachweis zu erbitten, überließen wir der Dame etwas gelind und gedämpft den Triumph und brachten den Kaffeetrunk weiter zur Neige. Diese zwischenmenschliche Einlage ermunterte uns, den Trunk abzuschließen, wir bezahlten und gingen nach draußen, von wo wir hergekommen waren, mit dem Esprit, auf dem richtigen Weg zu sein. Wir orientierten uns zum Wagen und den Schildweisungen, die mich irritierten. Mein prüfender Blick ging zunächst auf die Autobahn, von der wir gekommen waren und dann zu der Beschilderung in der Farbe grün und blau der Ausfahrt, die sich nahtlos in die Autobahn wieder einfügen sollte, von der wir eben abgefahren waren, um der Vignettenpflicht nachzukommen. Diese Route bin ich zuvor noch nie gefahren. Dafür aber Hans, der sich plötzlich heimisch fühlte. Mein Nachfragen: „Sind wir auf dem richtigen Weg?“ „Ja, ja“ und deutete auf das Schilderwirrwarr mit dem Hinweis „Brennerpass Bozen“. Diese bestimmende Anweisung löste keinerlei Zweifel mehr bei mir aus. Das Nachfragen war schon für mich erforderlich, nachdem der Autobahnschild –Wegweiser mich derart irritierte.
In Deutschland sind die Autobahnschilder blau und in Österreich und Italien grün. Frohes Europa! Nicht einmal in diesem Bereich der Straßendeutungs-Verkehrssicherheit gibt es europäischen Konsens und Loyalität. Und die sich bei mir eingeschlichene Monotonie zur Bequemlichkeit, dass alle Autobahnverkehrsschilder auf der Farbe blau beruhen und die weiteren Straßenschilder gelb, ließ die Wachsamkeit verkümmern. Jeder kocht doch seine eigene Suppe. Bestandteile von Anarchie. Hans führte mich von der Tankstelle auf den zielführenden Weg – Reschenpass, danach Brennerpass in Richtung Bozen mit der abergläubischen Frage von mir „sind wir hier auf dem rechten Weg? Das ist doch keine Autobahn. Hans, ich glaube – und glauben heißt nicht wissen- wir haben doch Gegenverkehr?“ Bevor ich das Gaspedal betätigte, um Fahrt aufzunehmen, gestikulierte Hans mit erhobenem Zeigefinger, wo es wohl lang zu gehen hätte, und ich folgte ihm zaghaft, indem wir die Parkposition verließen. Vor dem sich wegschleichen aus der Parkplatzposition meinte Hans, dass er Kenntnisse habe über die Verhängung saftiger Verkehrsstrafen, wenn das Ausbleiben einer sichtbar an der Windschutzscheibe angebrachten Vignette von den Ordnungshütern ertappt wird. Ich stutzte über die nach meinem Empfinden übertriebene Euro-Normierung und sagte, dass uns das nicht berühren könne, weil die Vignette hier – und deutete auf die Instrumentenablage zur Windschutzscheibe hin, für jeden, der will, sichtbar ist und man sich über meine Pflichterfüllung überzeugen kann. Hans meinte, das genüge nicht und erklärte mir verblüffende Details, die nur derjenige wissen konnte, der sich in dieser Verstrickung schon einmal befunden hatte. Ich empfand es nicht für notwendig, vertiefend nachzufragen, um kein Gefühl von Gelöbnis aufkommen zu lassen. Nachdem ich immer noch etwas verwundert am möglichen Tatbestand zweifelte, ermahnte mich Hans, das zu tun, wie er das meinte. Es kam die Disziplinkeule zum Ausdruck, ohne sich des Komparativs zu bedienen, mit der höflichen freundschaftlich garnierten Bitte, die Vignette sichtbar an die Frontscheibe zu kleben, um so Schaden von mir zu wenden. Wenn dies nicht erfüllt sei, würde mich die österreichische Gesetzlichkeit mit voller Wirkung zur Rechenschaft ziehen, so Hans, und auf Unwissenheit, auf die ich mich im Fall eines Falles beziehen wollte, würde keine Gnade anerkannt werden. Hans‘ väterlicher Überzeugungskraft hatte ich nichts mehr entgegenzusetzen, zumal es meinem Aufklärungssinn entspricht, die Nützlichkeit von Erfahrungen gewinnbringend in das eigene Verhalten einzubauen. Und so tat ich, was gesagt wurde und das Gaspedal erfüllte seinen Beschleunigungseffekt, um dem Ziel näher zu kommen. Ich fragte immer wieder, ob wir auf dem richtigen Weg waren, weil die Straße, auf der wir uns befanden, nach meinem Empfinden ja gar keine Autobahn war, obwohl ich dafür bezahlt hatte. Ich hatte doch fast zehn Euro bezahlt, und dies für zehn Tage, und war nicht auf einer Autobahn. Ich witterte Betrug oder gar die Fahrt in die falsche Richtung. Aber dies wurde durch die Verkehrsschilder, auf die Hans immer wieder deutete, geradezu widerlegt, wenn meinerseits der Zweifel zum Klagen Vorschub leistete. Je näher die Alpennatur das Kulissenspiel eröffnete, desto lebendiger kuratierte Hans zu meinem Wohlgefallen die Landschaftsbilder, die sich uns im Wechsel der Fahrtgegebenheiten erschlossen. Durch den Wiedererkennungswert von Landschaften, verbunden mit Ereignissen aus der Vergangenheit, konzentrierte ich mich sowohl auf mein Fahren, als auch auf das Besagte, was sich als geeignet erwiesen hatte, selbst den Reschen- oder Brennerpass als einen Hügel zu empfinden. Immer noch tauchte die Frage in mir auf, warum die Straßenführung keine Autobahn war und die Beschilderung nicht mit grünem, sondern blauem Untergrund gekennzeichnet war. Ohne nochmals die Frage an Hans zu richten, wo wir sind, zog ich es vor, mich ganz in seine Hände zu begeben. Die Passhöhen mit den Fahrteinschränkungen aufgrund von Straßenbauarbeiten hatten wir hinter uns gelassen. Es gab nochmals eine Vignette für Italien zu kaufen, die mich wiederum zum Staunen brachte. Da gab es noch einen Übergang Österreich-Italien vor oder bei Sterzing, ich ließ mich nicht zu sehr auf weitere, nicht nachvollziehbare Verknüpfungen ein und folgte den Hinweisen von Hans und den nun mehr kontaktierten Anweisungen des Navigators in meinem Mobil. Mehr als in Sackgassen zu landen war nicht mehr vorbestimmt, nichts Gravierendes war mehr zu erwarten. Einfach geradeaus. Und schon kam das Hinweisschild „Val di Vizze“. Eine herrliche Landschaft, genau, wie ich mir diese vorgestellt hatte. Nicht gerade Schwarzwald, aber dafür anders und bezaubernd schön.
Unsere erste Adresse „Wiesen Prati Jägerhof“, die ich mir nach einer Empfehlung auserkoren hatte, war sehr schnell nach Wegstrecken und Kreisverkehren im Blickfeld. Die Unterkunft war von außen zunächst für den ersten Eindruck einladend, freundlich, gepflegt, was sich dann auch im Hause selbst wohlwollend bestätigte. Wir hatten uns aus dem Wagen gehievt, als wollten wir sagen „geschafft“.
Ein Hund in einer kleinen, wohlbehüteten Parkanlage, so schien es mir, nahm uns interessiert zur Kenntnis. Um mir die Hundenamen nicht merken zu müssen, erkor ich den Einheitsnahmen „Fiffi“, der auch für einen Hund oder ein Hundeleben sehr signifikant sein müsste, denn er wird nie mit giftigem Protest, aber dafür mit Einsicht, mit sehr geduldigem, müde scheinendem Augengezwinker zur Kenntnis genommen und akzeptiert. Ich sprach einige Begrüßungsworte mit Fiffi. Dies in Deutsch, weil ich davon ausging, dass in diesem Wiesental eine Multikulti-Gesellschaft ihren besinnlichen Urlaub verbringt. Fiffis beharrender Standpunkt ließ mich verstehen, dass es ihm genügte, mich oder uns gesehen zu haben oder auch, dass er nur der italienischen Sprache gehorchen würde. Also versuchte ich das Begrüßungsritual auf Italienisch in Anlehnung eines Telefonatbeginns: „Ciao buon giorno il mio amico Fiffi“. Kaum gab ich meiner Überwindung den Ton, schon machte Fiffi eine Kehrtwendung und dachte sich sehr wahrscheinlich seinen Teil. Oder vielleicht fühlte er sich auch beleidigt, indem seine Multikulti – Sprachkompetenz in Zweifel gezogen wurde. Es wunderte uns schon, dass der Wauwau so diszipliniert war, dass jedes erwartete Kläffen und Protestbellen ausblieb. Ein braver Fiffi.
Er zog von dannen und wir nahmen unser minimalisiertes Reisegepäck aus dem Kofferraum, um uns in den Jägerhof einzuquartieren. Seite an Seite schritten wir in sehr entspannter Haltung zum Eingang der Glückseligkeit. Eine einladende, aus Holz gearbeitete Pforte, die dem Landschaftsstil angepasst war, gab Orientierungshilfe, wo das Nachtlager aufzufinden war. Wir traten ein und unendliche Stille durchflutete das Foyer. Der Ruf nach Leben blieb zunächst ohne Widerhall. An der Rezeption, in überschaubarer Tresen-Applikation, stand ein kleines Schüsselchen mit Bonbons für die Personen, die sich unerfüllt im Empfang gewürdigt und durch eine Süßigkeit zum geduldigen Warten ermuntert werden sollten. So vielleicht als besondere Serviceleistung gedacht, die zumindest ich so gerne annahm. Ich fragte Hans: „Möchtest Du Dein Leben etwas versüßen?“ und reichte ihm das Schüsselchen mit den Bonbons. Eine Handbewegung gab Signal, was er davon hielt und das immer wieder, mit solch komischen Fragen behelligt, quittierte er diese mit seinem fröhlich anmutenden, verkniffenen leicht lächelnden Augenpaar. Ich bediente mich ungefragt, jedoch im Einklang mit dem Gewollten dieser Einrichtung. Hans inspizierte sofort mit leidenschaftlicher Neugierde die einzusehenden Räumlichkeiten und war der besten Benotung in ausreichendem Ambiente nicht abgeneigt.
Noch war niemand in Sichtweite oder hörbar. Auch ich bewegte mich im gemeinten Foyer zwei Schritte vor, zur Seite, wieder nach hinten, als würde ich bestrebt sein, mit einer rhythmischen Sportgymnastik und Tanzbewegung den Gang zum Ort der Toilette zu finden. Nichts dergleichen hätte mich dazu bewegen können, diesen Einladungstanz zu vollführen, stattdessen, mehr gelangweilt als strebsam, sah ich prüfend den Gangraum ab. Vor der Einlasstür links eine Treppe, gegenüber rechts der Fahrstuhl, was ich für mich als günstig erachtete, danach eine geschlossene Tür, danach der Übergang in den Restaurantraum, der einiges an Gästen parken lässt. Ich wagte es, die geschlossene Tür sehr behutsam so zu öffnen, um jedes auffällige Geräusch zu vermeiden, weil ich vermutete, jemanden zu ertappen, der uns noch nicht wahrgenommen hatte. Wäre diese Türöffung erfolgreich gewesen, hätte ich mir schon Sorgen gemacht über das Hörprofil desjenigen, den ich da angetroffen hätte, denn ich hatte schon rustikale Laute in mehreren Sprachen von mir gegeben, z. B. die Ouvertüre aus der Oper von Verdi „La Forza del Destino“ in einem phrasierenden dynamischen Crescendo. Dies ohne Erfolg. Als ich die Tür spaltmäßig öffnete, um kiebitzen zu können, stellte ich fest, dass meine Augen in der Küche mit Edelstahleinrichtung Platz genommen hatten und es gab nichts, was meinen Augen nicht wohl gesonnen war. Alles angenehm sauber. Der erste Eindruck, den wir von außen vernommen hatten, setzte sich mit dem in Vergleich, den wir nun durch den Augenblick im Inneren erfahren durften. Alles was das Auge ungewollt, aus Zeitvertreib, aufnehmen konnte, war von einer willkommenen Atmosphäre.
Ich schlich mich unauffällig durch den Gang nach hinten, wo ich vermutete, dass sich dort eine günstige Zimmerlage für mich anbot. Entlang des Ganges erblickte ich an der rechten Gangwand eine Grafik oder Fotografie von einem Gebäude, das mich zum Verweilen veranlasste.
Ein altes Fachbauwerk mit Türmchen und Erker, in dem ich gerne die anberaumten Tage hätte verbringen wollen. Später ergab sich durch ein neugieriges Nachfragen, dass das romantische, idyllische, ja märchenhafte Fachbauwerk jenes war, in dem wir jetzt unser Quartier bezogen hatten. Ich holte tief Luft. Wenn ich den Unterschied der Zeithistorie zwischen der Romantik und der Modernen Revue passieren lasse, komme ich zu dem Gedanken eines Oscar Wilde, der sagte: „Ich habe einen ganz einfachen Geschmack und bin mit dem Besten zufrieden“. Blickte ich auf die Bilder, so musste ich feststellen, dass man der Landschaft das Beste genommen hatte. Etwas Wehmut stieg in meinem Herzen.
Da sich immer noch niemand blicken ließ, machten wir es uns im Gästeraum etwas gemütlich und mutmaßten, welche Gastlichkeit in diesen heiligen Räumen wohl stattfinden möge.
Die Einrichtung gab zu keinem Rätselraten Anlass. Alles solide und normgerecht aufgeräumt. Schenkt man den Pfeilen und Markierungen Vertrauen, erfüllte selbst die Sicherheitseinrichtung, wenn Not am Mann, alles an Wünschbarem. Der Blick aus dem Fenster zeigte Landschaftsbilder, wie diese in Postkarten immer wieder zu finden sind. Das kindliche Gemüt kam auf seine Kosten. Und Hans, der sich über Jahre dieses Ambiente als Urlaubsparadies auserwählt hatte, konnte mir durch sein Wissen das Lexikon ersparen. Ich staunte sehr, was er alles in seiner grauen schwabbeligen Masse so gebunkert hatte und dies mit achtzig Lenzen. All seine Erinnerungen fanden den Nachweis in den sich mir anbietenden Landschaftsbildern, und nicht nur das. Selbst die bewegten Gesellschaftsbilder, das Treiben in vielfachem Aufbau und deren Ausgestaltung übertrafen meine voreilige Meinung.
Plötzlich ein Schritt, ein Knarren und eine ältere niedliche Dame erschien, nicht zwingend im Dirndl, sondern in der Edelkluft häuslicher Gebrauchsfähigkeit.
Sie schaute uns fragend an, mit ihrem flink suchend, prüfend fixierendem Augenpaar; blieb zunächst stumm, ja sprachlos, wich rücklings mit sehr gemächlicher, mehr schleichender Fußbewegung an die Küchentür, öffnete sie, blieb im Türrahmen stehen, ein Porträt, das ihr Antlitz ziert, und lispelte den Namen Sonja. Immer noch stillschweigendes Fragen mit staunenden flinken Blicken, ohne ein Wort gesagt zu haben.
Meine legere Art und Weise, mit der entmutigenden verschwiegenen Sprachlosigkeit Position zu beziehen, die sich in einer plötzlichen befremdlichen Gegenübertretung ereignet, ist geradezu das Synonym, mit der herausfordernden, menschlich erhabenen, liebenswerten Eloquenz, die ländliche Omerta ins Gegenteil umzuwandeln. Wir ließen ertönen, dass wir im Jägerhof reserviert hatten und „Wir freuen uns, Sie, Frau Sonja, begrüßen zu dürfen. Sie sind herzlich in unserer Runde willkommen.“ Aufmerksamkeit regte sich in Ihrem Teint, das Gesetz der Omerta war gebrochen. Die Dame fragte uns nach unserem Namen, den ich dann im französischen Sprachgebrauch vorbrachte. Sie stutzte, nahm eine Art Kalender oder Reservierungsblatt in die Hand und suchte mit Begleitung eines Gemurmels nach dem Namen Wondrak und de Temple. Ich gab ihr eine Visitenkarte, um einen Abgleich treffen zu können, damit es für die freundliche Dame etwas leichter zu kontrollieren war. Die nicht verständlichen Laute führten zur verständlichen Reißleine und ließen mich bemerken, dass unsere Reservierung von Sonja Sorarui aus dem Haus Pretzhof vorgenommen wurde. Auch dieser Hinweis ließ Verständigungsdämme aufreißen. Auf ihre Frage, in welcher Etage wir uns einnisten wollten, preschte ich vor mit der fragenden Bitte, ob es auch Zimmer auf dieser Küchenebene gäbe. Diese Frage ermunterte sie und ging eilig den Gang entlang, an dem das Bild von dem Fachbauwerk hing, das mich zum Nachdenken der veränderten Welt anhielt und tippte auf zwei Türen links und rechts des Ganges. „Vortrefflich“ ertönte ich, was bei der Dame noch nicht so recht angekommen war und die fragende Verstummung wollte im Gespräch wieder Einzug halten. Hans durchkreuzte das mutmaßliche Sprachhindernis mit der höflichen Aufforderung, ob sie die Schlüssel habe, und sie eilte wieder an die Rezeption, in dem in einem aufgeteilten Fachwerk-Wandschränkchen die Schlüssel, geordnet nach Zahl, deponiert waren. Sie hatte die Türen geöffnet und weit gemacht, so dass die Herren Hans und Günther einziehen konnten. Der liebe Herr Jesu hätte sicher diese Zimmer der Krippe in Bethlehem vorgezogen.
Wir hatten eine wärmende Decke, währenddessen das himmlische Kind von der Strahlungswärme von Mensch und Tier abhängig war. Hans und ich verabredeten uns auf Zuruf, sobald das Ritual der Toilette für beide Seiten abgeschlossen war, um sich in das nächste Abenteuer zu begeben, nämlich den Pretzhof aufzusuchen. So erwarben wir unser Nachtlager und der Tag konnte seinen weiteren Verlauf nehmen.
Ohne rebellisch oder diskriminierend wirken zu wollen, gerade gegenüber der sehr freundlichen Dame (wie es sich später erkunden lies, die Gründerin und Besitzerin dieses Hauses Jägerhof, den ich jedem naturbelassenen Menschen, wie Hans und ich es sind, wärmstens empfehlen möchte), ist mir in diesem Zusammenhang ein Zitat aus einem literarisch verfassten Buch mit wissenschaftlichem Beigeschmack von der aus den USA stammenden Psychiaterin Louann Brizendine eingefallen, die behauptete, dass Männer und Frauen zum Anderssein verdammt sind. Vielleicht könnte man darüber nochmals nachdenken und es nicht nur auf ein Ereignis beziehen oder gar begrenzen zu wollen.
Nachdem das Minimalgepäck und die Garderobe seinen Platz eingenommen hatte, war es für mich, den Autor, wichtig, nach langer Reise und Zimmerbeschauung der herrlichen Frischluft aus den Bergen Einlass in mein Zimmer zu gewähren. Kaum erwogen, schon gemacht, öffnete ich die Fensterflügel und meine Lunge schöpfte Luft aus Südtirol. Da es bei der Anfahrt zwischendurch etwas genieselt hatte, konnte man davon ausgehen, dass der Feinstaub auch vor den Toren von Südtirol nicht gebändigt war, und so eine erhöhte Reinheit der Luft gegeben war. Zumindest war sie erfrischend. Ein letzter prüfender Blick im Rund meines Zimmers, den Türgriff in der Hand, die Bewegung nach unten und so trat ich nach außen in den Gang, wo sich gegenüber die Zimmertür von Hans befand und mich zum Anklopfen veranlasste. Beim Öffnen meiner Tür erfüllte sich ein gar kräftiger Luftzug, der mit Sicherheit jede Ecke im Hause aufwirbeln ließ, was ich als ausreichend, gut, wohltuend, erquickend empfinden durfte. Kaum war der dumpfe Klopfton an der Tür vollendet, um Hans, der im Zimmer weilte, zur Aufmerksamkeit anzustacheln, verließ mich die Geduld zum Warten; bevor eine Reaktion ertönte, öffnete ich die Tür, plusterte mich auf und blies zum Aufstieg zum angestrebten Ziel, dem Pretzhof. Noch hatten wir keinen Hinweis, wo es lang zu gehen habe, um dieses Ziel zu erreichen. Der angestaute Hunger tat sein weiteres und versetzte uns in die Lage, die Willenskraft im Rahmen der Mittagszeit so zielorientiert einzusetzen, dass die Gourmet-Frohlockung, die sich mir insbesondere durch die arte-Reportage erklärte, Befriedigung erfahren konnte.
Nachdem die erfreuliche, von herzlicher Wärme getragene Begrüßung und Einführung ihren vorübergehenden Informationsabschluss erreicht hatte, war es an der Zeit, unsere Einweisungsdame zu befragen, wie wir zum Pretzhof kommen würden. Diese Frage veränderte das Augenpaar der etwas älteren Dame mit den gelebten Markierungen in fast doppelter Pupillengröße und sie begann, in alle Himmelrichtungen zu gestikulieren, was mehr Verwirrung als Deutungshoheit stiftete. Dennoch war es uns nicht ganz möglich, das Sortiment der indifferenten Armbewegungen mit begleitenden international ausgeschmückten Wortschöpfungen oder auch das Gymnastikarrangement so zu deuten, dass von einer geometrischen Navigation auszugehen gewesen wäre. Wir fragten nochmals nach und stellten uns gegenseitig danach die Frage: Ist alles soweit im Kasten, dass wir uns auf den Weg machen können? Hans in seiner durchdachten Erhabenheit begnügte sich mit einer reduzierten Anleihe der vielen richtunggebenden Handzeichen und verkündigte kleinlaut, wir fahren mal zum Hof hinaus, dann links, etwas geradeaus, dann über eine kleine Brücke und dann wieder geradeaus in die Einfahrt einer wie auch immer gearteten Serpentine. Diese einem Glaubensbekenntnis gleichende theoretisch anmutende Wahrsagung gab mir als Chauffeur den Ruck, um der Prophezeiung das Besagte folgen zu lassen. Ich klopfte dem Hans aufmunternd auf die Schulter, den Kurs nach außen einzuschlagen. Im Augenblick der beabsichtigten dynamischen Umsetzung, den Pretzhof anzusteuern, tauchte plötzlich eine der drei Töchter an der Oberfläche auf und sie veredelte den Gedankenaustausch, den wir mit ihrer liebreizenden Mutter geführt hatten. Ihre sympathische Fröhlichkeit harmonierte mit ihrer anheimelnden Eloquenz, die nichts an Menschlichkeit vermissen ließ. Sie moderierte die Antwort der Fragestellung in ihrer eigenartigen Sprachmischung, die dem pointierten Belcanto nicht fremd war. Hans, der durch seine früheren Aufenthalte in der Region Südtirol dem alpenländischen Sprachcharakter mehr zugewandt war als ich, nickte im Staccato das erklärend Besagte ab. Damit von dem Besagten nichts verloren ging, machten wir uns schnurstracks zum Wagen und begannen, uns den Wunsch zu erfüllen. Der Wagen kam ins Rollen und kaum hatte ich den Hotelbereich verlassen, ertönten Hans sprachbegleitende Anweisungen mit Handbewegung oder Fingerzeig. Ich vergewisserte mich mit der Wiederholung, was nicht immer unbegründet war. Kaum hatte ich die Straße überquert, kam ich an eine Stelle, wo ich sowohl geradeaus als auch rechts abbiegen konnte. Hans meinte, einen Wegweiser gesehen zu haben, der den geraden Weg ansagte. Also geradeaus. Ich selbst hatte dies nicht registriert. Und so begann der Aufstieg oder Auftrieb zum Pretzhof im Schritttempo. Dieser war noch nicht in Sichtweite. Wir bemühten uns, nicht nur die Spur zu halten, sondern dem Genießen seinen Wert zu geben, der durch den Anblick des geradezu majestätischen Berghangs mit den archaisch anmutenden Bauernhöfen, Bachläufen, Kapellen, oder wie Hans meinte, Kirchen, Bildstöckel – mahnenden Kruzifixen, die sich malerisch in die Landschaft einfügten.
Die Landschaft wurde noch durchpflügt von den Überresten eines Gebirgsbachs, der je nach Jahreszeit zu einem reißenden Geröllstrom ausufern konnte und Mensch, Tierwelt und Hofgüter in Windeseile lebensbedrohend das Chaos verursachen konnte. Danach blühende Landschaft- ein Paradies wie uns schien. Nur eine Verwüstung kann sich wieder zum Paradies ausgestalten und wir kamen zur rechten Zeit, um das Paradies erleben zu dürfen. Wir fuhren weiter und kamen ins Zweifeln. Wir erblickten einen in die Jahre gekommenen, linksseitig der Fahrtrichtung etwas abschüssig gelegenen Bauernhof, davor zwei betagte, in sich versunkene Männer auf einer Bank sitzend, mit dem Antlitz den Sonnenstrahlen zugewandt, die meine Aufmerksamkeit erfrischten. Die Einfahrt zum Siestahof war steil nach unten führend. Ich wusste schon aus der Email, dass dies nicht der Pretzhof sein konnte, aber die durch die Zeit und Arbeit gesegneten, mit freundlicher Mimik ausgerüsteten Einheimischen würden uns bestimmt weiterhelfen, in welche Richtung nach oben es wohl trefflich weiterführen könnte. Unten, am Platz vor dem Haus angekommen, hatte ich schon den Eindruck, dass unser Gefährt Habachtstellung verursachte. Zumindest der zweifelnde Blick von ganz unten hatte einen solchen Eindruck entstehen lassen. Mit der Türscheibe geöffnet ertönte mein wohlklingendes „Grüß Gott“, ohne auf einen Widerruf zu warten und die Frage danach: „sind wir auf dem richtigen Weg zum Pretzhof?“ Zunächst nur ein Lächeln, das den Fremden in uns enttarnte (denn das waren wir), es muss dem eigenen Bemühen zugewiesen sein, ein Instrument wirksam zu machen, damit das Ziel erreicht werden kann. Ich setzte meine Geisteshaltung mit dem Grundgedanken ein, nur wer anders denkt, verändert die Welt und die ist, so hatte ich den Eindruck, hier sehr verschlossen. Also war ein weiterer Reanimierungsversuch statthaft. Ich bemerkte aber auch, dass die Sprachverständigung Einfluss hatte auf das Empfinden eines vielleicht vorliegenden Autismus. Und dennoch entlockte ich zumindest eines, es wurde eine Handbewegung gegeben, die wir dahingehend interpretierten, dass es weiter geradeaus gehen sollte. Wir fuhren die steile Einfahrt wieder zurück, jonglierten den Wagen in die Geradeausrichtung und unterhielten uns über den verträumt anmutenden Zusatzgewinn des gealterten Lebens. Uns aber knurrte schon einige Zeit der Magen, was weiteren Antrieb auslöste, die Serpentine hinter uns zu bringen, ohne gänzlich zu wissen, in welcher Höhenlage sich der Pretzhof finden ließ. Linksseitig eine kleine weißgetünchte Kirche für die Almenbevölkerung, dann Gehöfte der Tiere und Milchwirtschaft, eine Kurve und danach wieder ein altes Gehöft.
Und dann, welch eine Bestimmung, im Moment der sich entflammenden quo-vadis-Unsicherheit, sich wieder streckenkundig machen zu müssen, kam eine Dame aus dem Bauernhof, die möglicherweise, ihrem Äußeren nach zu schließen, Besorgungen zu erledigen hatte. Dem Ritual folgend, wie zuvor bei den greisenhaften Herren, bat ich sie, mir helfend Signal zu geben, ob wir auf dem richtigen Weg waren, den Pretzhof zu erreichen. Freudestrahlend stimmte sie das Hohelied der Bestätigung an, als hätte sie bei einem Spiel das Glück auf ihrer Seite gehabt, dass wir bei der nächsten rechten Einfahrmöglichkeit unser Ziel erreicht hätten. Gloria in excelsis deo war meine dankende Verabschiedung und blickte dabei talabwärts und erkannte erstmals im Gesamten das Wiesental, was in der anfänglichen Nebelaktion etwas ins Hintertreffen geraten war.
Wir passierten noch einen Bauernhof, dem ein Backhaus in vorderster Front zugedacht war, und schon waren wir in der Einfahrt zum Pretzhof. Ich schaute verlegen auf die im Frontbereich des Wagens eingelassene Uhr und konnte feststellen, dass die Tagesreise von ca. 750 km mit Sackgassenaufenthalten und Einbahnstraßenirrtümern doch zügig vonstatten ging. Es war ca. 13.30 Uhr, als ich die Wagentür öffnete, und der Duft, den ich als Kind in jenem Ort geatmet hatte, in dem wir nach dem Kriege 1944 evakuiert waren, bei den Bergbauern im Nordschwarzwald, belebte meine Lebensgeister. Einfach herrlich.
Mir kam die Melodie von Donizetti „L’Elisir d’Amore“ in den Sinn „Una furtiva lacrima“-……. che vedo, che vedo – was sehe ich, was sehe ich! (im Original lo vedo, lo vedo; das sehe ich, das sehe ich). Ich habe es etwas verändert. Man möge mir das nachsehen. Felice Romani wird mich verstehen, wenn ich dem Geist bei diesem Anblick die Freiheit gebe.
Meine Augen betasteten das Gebäude und die Umgebung, begleitet von dem Empfinden, hier bleiben zu wollen. Aber Hans wollte ja wie am Morgen verkündet, nachdem ich mich ca. 10 Meter von der Haustür in Zellhausen entfernt hatte, am Abend wieder in seinem Bette sein. So eine frische Luft hält den Körper gesund und den Geist auf Trab, was mich hoffen ließ, dass seine ambitionierte, morgendliche Ansage mit den erfrischenden Lüften aus der Bergwelt dahingewedelt wurde.
Nach so langer fast nonstop Fahrt erwachten auch in Hans die Lebensgeister neu, eine Vitalität setzte sich in Gang, um zu erkunden, was sich da so vor und hinter den Türen zutragen würde. In der Stille wünschte ich mir für Hans und mich erkenntnisreiche, glückbestimmende Tage. Wenn diese Eindrücke um mich herum mit diesem paradiesischen Bühnenbild nicht trügerisch waren, möchte man, so lange man lebt, die Welt etwas besser machen, bevor man sie verlässt. Das Reflektierende in mir zum Vergleich, die Nüchternheit des Alltäglichen zum Paradiesgärtchen des Augenblicks, gibt die Nahrung zum Wunschdenken. Welch ein Dialog, der sich aufzwingt, die Hoffnung nicht zu verlieren. Hans, so sagte es in mir, ohne dies mit Bestimmtheit sagen zu können, war bestimmt einmal in seiner Jugendzeit bei den Pfadfindern. Zielorientiert erkundete er die Umgebung. So den archaischen Teil und den Teil der Neuzeit, die das Gehöft und den weitverbreiteten Gasthof repräsentierten. Hans entfernte sich, setzt seine Erkundigung soweit fort, bis er sicher geworden war in der Feststellung, am richtigen Ort angekommen zu sein. Der Pretzhof im Almenhang, mit seiner uneingeschränkt einladenden Kulisse festgemauert, erwies sich als das, wie es von mir im Vorfeld bei meinem Treffen in der Auberge de Temple mit Helga und Hans einladend zelebriert wurde. Ich hielt inne und erwartete den Hans ungeduldig von seiner Inspektion und Nabelschau zurück, denn er sollte mich begleiten zum Tor oder zur Tür, wie gewollt, um der Begegnung den Zugang zu verschaffen. Um dies möglich zu machen, befleißigte er sich zum Tatendrang und räumte zunächst ein Hindernis, eine Schubkarre, aus dem Wege, um somit ein freies Geleit zu ermöglichen. Hans wusste um meine zurückhaltenden Laufeigenschaften. Ich beobachtete ihn mit Argusaugen, damit er nicht mehr machte als zwingend erforderlich. Mit bedächtigem Schrittmuster ging er zu einer Tür des ersten Gebäudes nach dem Parkplatz und rief mir den liebkosenden Hinweis zu, dass sich da ansprechende Sauen im Stall tummeln würden und im weiteren Frohsinngeplauder, um mir eine Neugier zu entlocken, dass sich auch eine Muttersau mit 30 Ferkeln gar prächtig in Szene setzten.
Mein Enthusiasmus zu solch einer Art Peepshow war, gemessen an meinem allgemeinen Interesse, meinen Hunger etwas zu besänftigen, sehr gedämpft. Also rührte ich mich vom geparkten Auto in Richtung Wegführung, wo zuvor eine Schubkarre mit Gras bedeckt ein kleines Hindernis darstellte, dem Hans jedoch mit gewohnter Zielführung einen geänderten Stellplatz zugewiesen hatte. Wir gingen zusammen den Hausweg entlang, wie dieser von Hans erkundet wurde, um mir die levantinische Methode zu ersparen; wir priesen immer wieder die Eindrücke alpenländischer Impressionen, blieben stehen, drehten und wendeten uns, um nichts Sehenswertes auszuschließen und fütterten somit unser Wohlempfinden, um der Sättigung den Raum zu geben, der nach einer langen Anreise nicht ausbleiben konnte. An der Eingangstür angekommen, hörten wir in unterschiedlichen Tonarten das belebte Worttreiben der Gäste, die uns wissen ließen, dass wir keine Eintagsfliege sein würden. In geübter Weise öffnete der Türgriff die Türverriegelung und das betagte Türblatt gab frei, was unsere Augen schließlich erblicken konnten. Links eine Theke, dahinter stand ein durch und durch trainierter Herr in der Kluft eines Hausarrangeurs, der nicht nur Hände hatte wie eine Bratpfanne, sondern auch alles im Griff zu haben schien, was sich später im Laufe unseres Daseins als richtig erwiesen hatte.
In unmittelbarer Nähe links der Theke die Küche, das Refugium der Dame des Hauses, von der die arte-Redaktion ihre köstlichen Speisen und deren Zubereitungen in den höchsten Tönen zu loben wusste. Danach die Gasträumlichkeit im archaischen Glanz und in einer Wohlfühlatmosphäre, die die Menschen fesseln, die eine solche Idylle sich erwünschen und im Pretzhof erfüllt bekommen.
In Windeseile durchpflügte ich mit neugierigen Blicken die Räumlichkeiten, soweit mein Standpunkt dies erlaubte, und betrachtete die gutgelaunte, eloquente, von Empathie gestützte, annehmliche Beweglichkeit des diensthabenden Services und den Nutznießern dieser exquisiten menschlichen Eigenschaft. Und dann die fröhlich diskutierenden, erzählenden, interessanten Zecher, die sich versammelten an den Tischen zum köstlichen Mahl, um dem Genuss der mit Liebe und Können zubereiteten Kreationen ihre anerkennende Aufmerksamkeit zu geben, damit dem Erlebnis die Erinnerung leicht gemacht wird. Wir traten ein, zwei, drei Schritte, und die Statue Mann trat uns entgegen. Er wusste von Sonja, seiner Tochter, mit der ich über lange Zeit in Email-Kontakt stand, und die mir auch die Almenköstlichkeiten zusendete, wenn sich der Bedarf anzeigte, dass ich mein Kommen wie angekündigt wahrmachte. Wir hatten uns zuvor nicht gesehen. Nur ich hatte mir das Bild von der Dame und dem Herrn des Hauses, soweit ein Fernsehschirm das zulässt, etwas eingeprägt. Doch bei Fernsehbildern im Vergleich zur natürlichen Menschengestallt ist Fantasie gefragt, die ich ohne weiteres besitze. Natürlich konnte er nicht erkennen, wer ich war. Nach einem „Grüß Gott“ und in meiner Erwiderung „Guten Tag“ veröffentlichte ich meine Visitenkarte und stellt meinen Freund Hans, der sich sichtlich wohlfühlte, vor. „Ach“, sagte er in seiner erfrischenden Begrüßung, „sind Sie der Schriftsteller, der mit Sonja in brieflichem Kontakt ist?“ Ich erwiderte ihm in einem schon kumpelhaften Verständigungton, dass ich nichts mit Schriftstellerei zu tun habe, aber die freundliche verbindliche Tonart, die ich von Sonja erfahren durfte, keine andere Reaktion möglich machte, als die der liebenswerten Entgegnung.
Wie Sonja mir rechtzeitig mitteilte, war sie an diesem Tag, als wir ankamen, noch in Apulien. Karl Mair, so der Name von Sonjas Vater, empfahl uns, ihm zu folgen und erwähnte dabei, dass Sonja, wie auch er und seine Frau sich sehr auf unseren Besuch freuten. Der willkommene, in Worten gefasste Begrüßungs-Cocktail und die Ausstrahlung der archaisch, architektonisch gefassten Räumlichkeiten, das wohlriechende Aroma aus den verschiedensten naturbelassenen Ingredienzien, erfassten unsere Geschmacks-Synapsen und vereinten sich mit dem Glück, den von Karl für uns erwählten Tisch eingenommen zu haben. Wir waren sehr schnell mit Karl in einen vertrauten freundschaftlichen Dialog eingetreten. Nachdem der Tisch eingenommen und der Rundumblick ein weiteres Staunen auslöste, kam Karl mit einer Speisekarte in der Hand auf uns zu und fragte, was wir zu essen wünschten. Wir bzw. ich sagte zu Karl, er gäbe uns bitte das, was die Küche zu bieten habe und dies in einem überschaubaren Mengengerüst. Wir wollten einfach alles genießen, nicht essen, nur genießen. Also sagte er „Ich werde dafür Sorge tragen“. „Wir wollen es Dir überlassen, Karl.“ Er bedankte sich für diese Art der Bestellung und freute sich, uns überraschen zu können. Wir gaben noch den Hinweis, ohne tiefer in den Sachverhalt einzugehen, was aber im späteren Verlauf der Unterhaltung eingeflossen war, dass der Gesundheitszustand von Hans eine zeitlich therapeutisch reglementierte Esskultur erforderlich machte, d. h. Feststoffaufnahme in Intervallen und im zeitlichen Abstand die Flüssigkeitsaufnahme. Eine Einbremsung, was die Speisen selbst betraf, gab es nicht. Es begann mit Mineralwasser, Kochkreationen in seiner Vielfalt und den Wein aus besten Lagen, damit die auf dem Reiseweg verloren gegangenen Lebensgeister wieder erfrischt werden konnten. Es waren nicht nur die Speisen, die Getränke die uns das Schwärmen ermöglichten, sondern auch das würdevolle, geschmackvolle Vorlegen durch die eleganten, bezaubernden Damen, die die Tischplatte zu einem impressionistischen Farbtupfer werden ließen. Die Inszenierung und Umsetzung von Harmonie in der Choreographie des Gleichklangs, die Kunst des Genießens, die in jeder Variante eine Kulisse erfahren ließ, ein Theatro – Nouvelle Cuisine der Kochkunst, die dem Einkehrenden ein Erlebnis zum Vermächtnis ermöglichte. In abwechselnder Reihenfolge kamen die Kreationen auf den Tisch, von den Vorspeisen angefangen bis hin zum Nachtisch.
Als das Amuse-gueule vorgetragen wurde, funkelten die Augen wie Fahrradrückleuchten. Die zierliche Nora ließ uns durch den hinweisenden Zeigefinger wissen, was die Tellerplatte präsentierte und den weiteren Genuss beflügeln mochte.
Da gab es eine Art Paste, eine Delikatesse, der Name ist mir leider entschwunden, wie so vieles von den Köstlichkeiten, die ich nochmals gewünscht und bekommen hatte. Da gab es auch eine Fleischsorte, ähnlich eines Rinder-Carpaccios, die uns zu einem da capo animierte. Dann kam Karl, um nach uns zu schauen und konnte die glänzende Zufriedenheit aus unserem Antlitz wahrnehmen.
Ich fragte ihn, nachdem das Quellwasser im Vordergrund des Tisches geparkt war, ob er uns einen erlesenen Rotwein empfehlen könne mit dem Hinweis, wohl den, der ihm selbst am nächsten liegt. In seiner sonoren Stimme bejahte er meinen Hinweis und präsentierte einen Barolo von einem ihm bekannten Winzer, der ihn mit diesen edlen Tropfen, soweit möglich, bevorzugt belieferte. Die Empfehlung war ausgezeichnet, zumal ich ihn zuvor habe wissen lassen, dass ich mehr mit den Rotweinen aus dem Bordeaux liebäugle als mit Rotweinen aus der Region Piemont. Wir speisten, nein tafelten von 14 Uhr bis zum späten Nachmittag, gegen 18 Uhr, von einer Köstlichkeit zur anderen. Und der Sättigungsgrad war von solch einem angenehmen Empfinden, dass wir nicht das Gefühl hatten, über unsere Verhältnisse gespeist zu haben. Inzwischen hatte sich die liebe Kochkünstlerin Ulli Mair, die Dame des Hauses, die Regentin des Küchenrefugiums, in Erscheinung gebracht.
Es war mein Anliegen, sie in der Art einer sich wiederholenden Filmszene aus den Romanfiguren der Rosamunde Pilcher und mit der entsprechenden Würde und Liebenswürdigkeit zu begrüßen. Es gab eine Verschnaufpause, die es ermöglichte, sich durch den gewonnenen Zeittakt gegenseitig bekannt zu machen und der Freude Ausdruck zu verleihen, hier im Hause vom Pretzhof zu sein. Einfach herrlich diese herzlichen, lieben, gastfreundlichen Menschen, die ich während der arte-TV-Sendung zu schätzen und würdigen wusste und das Vergnügen nun hatte, die persönliche Nähe mit ihnen zu erfahren. Karl hatte sich zwischendurch die Zeit genommen, meinem Freund Hans das ganze Gehöft in seinen einzelnen Funktionsbereichen zu zeigen. Aufgrund einer Geheinschränkung war es mir nicht möglich, diesen historischen Ausflug mitgestaltend zu begleiten. Dafür hatte ich in der mir zur Verfügung gestellten Zeit die Chronik gelesen über die Epochen, die geprägt waren, von harten, kargen Lebensumständen und so zu schätzen, wie über Jahrhunderte alles erhalten werden konnte, was mir allen Respekt und Achtung abnötigte. Die Entstehungsgeschichte des Pretzhofes aus dem 15. Jahrhundert ist eine geschichtliche Unternehmungskultur, die so nur wenige Male angetroffen werden kann und der sich heute die Familie Ulli und Karl Mair mehr denn je verpflichtet fühlt, das zustande gebrachte Resultat zum Wohle ihrer Gäste zu erhalten.
Die Räume waren alle, soweit feststellbar, besetzt und immer wieder kamen weitere Gäste, die sich von einem ausgedehnten Spaziergang mit neuer Lebensenergie am Tisch im Gasthof Pretzhof labten. Ein permanentes Kommen und Gehen. Gegen 16 Uhr waren die Gasträume weniger frequentiert, so dass ich ohne zu stören die Wände nach Vergangenem oder Artefakten absuchen konnte. Die Entdeckungsreise in den Räumen war insbesondere vom Brauchtum geprägt, das dem Haus auch seinen archaischen Charakter verliehen hat. Hans kam zurück von seiner Exkursion und Inspektion, zu der Karl eingeladen hatte, um sich vorstellen zu können, welche historische Leistung, Arbeit und qualifiziertes Tätigsein mit dem Erhalt des Gasthofs in Zusammenhang steht. Karl meinte, bevor wir gegen 18 Uhr zum Aufbruch geblasen hatten, dass er willens wäre, uns am anderen Tag zur Alm zu bringen, dort wo seine Kühe, Schafe und Ziegen die Voraussetzungen schaffen, den exzellenten Bergkäse in seinen Genussvariationen herzustellen. Es ist die liebevolle Art und Weise, wie der Umgang mit der Kreatur gelebt wird. Es bedarf einer Sondergenehmigung, wenn man als nicht ansässige Person mit einem Fahrzeug die Alm begehen möchte. Da ich mit solchen Dingen wenig am Hut habe- es ist nicht mein Ding, mir eine Almenwanderung zuzumuten- zog ich das Automobil vor, wenn denn die Umstände dies erlauben. Das würde sich am anderen Tag verifizieren lassen. Unabhängig vom Ergebnis konnte sich jedoch kein Nachteil ergeben, der mir das Vergnügen am Pretzhof hätte einschränken könnte. Da gibt es viel zu viel Naturbelassenes zu bestaunen, und die Zeit war knapp. Nachdem Hans sich im Gehöft umgesehen und mir von seinen visuellen Errungenschaften erzählt hatte, wollte er mich teilhaben lassen, mit der Empfehlung, ihm zu folgen, damit ich etwas von den Gebäudeeinrichtungen sehen konnte. Ich legte mich auf den anderen Tag fest, jener Tag, wo ich Sonja, die aus Apulien anreisen würde, begegnen würde. Auch würde der Tag von einigen Sonnenstrahlen benetzt sein, wie der Landfunk so berichtete. Nicht nur, dass die Begegnung von Licht erfüllt sein würde, sondern mir auch die Möglichkeit gewährleistete, das eine oder andere Foto im iPad unterzubringen. Die Zeit war vorgerückt, und wir machten uns auf, die herzliche Atmosphäre, die wir geschenkt bekommen hatten, für den nächsten Tag zu konservieren. Dankesgrüße, Bewunderungen und das Entzücken in allen erdenklichen Richtungen schmückten die Krone, die wir an diesem Tag zu vererben hatten. Abschiednehmen an diesem Tag mit der Freude, den folgenden Tag in der Vielfalt des Staunens weiter erleben zu dürfen und mit der Erwartung, der bis dahin rein schriftlich korrespondierenden Sonja zu begegnen, ließ die Stunden zu Minuten werden. Die Fahrt von Frankfurt, die Einweisungsbegebenheit im Jägerhof, der zum Pretzhof orientierungsbefallene Aufstieg und die kulturellen und kulinarischen Erfüllungen im Gasthaus hatten schon angemahnt, der Ruhe das zu zollen, was unserer Dynamik abverlangt worden war. So gingen wir Seite an Seite mit einem Wohlgefühl im Gepäck und schlichen uns von dannen. Doch je näher wir mit angemessenen Schritten zu den Stallungen kamen, meinte Hans „Lass uns nochmals Einblick nehmen in die Behausungen, wo die Tiere versammelt sind.“ Da gab es den Kuhstall und einen Schweinestall, der dazu einlud, der Kreatur in einem gesunden Abend gute Nacht zu wünschen sowie das Vermächtnis zu hinterlassen, dass wir uns tags darauf nochmals an dem Anblick dieser herrlichen Geschöpfe erfreuen mochten. So nahm ich mein iPad, brachte es in Stellung und bat die Kühe, zwei an der Zahl, um ihre Aufmerksamkeit. Der edle Anblick dieser Tiere erzwang in mir einen Sehnsuchtswunsch, dass ich zu einem späteren Wiedersehen all denen, die sich im Stall zur Ruhe gelegt hatten, ein Foto vom 27.06.2014 – 18 Uhr dann zeigen könne, um ihnen die Frage zu stellen „Erkennt ihr euch wieder?“
Die majestätischen Eindrücke der beiden Kühe waren durch ein hell gräuliches Fell gekennzeichnet, einem einer Stumpfpyramide ähnelnden, sehr markanten Kopf, aus dem nur der Ansatz von Hörnern bemerkbar war. Dazu ein konzentriert blickendes Augenpaar, eingefasst von Augenlidern, die mich erfassten und die Frage hinterließ, was werden die zwei edlen Kühe über das Erscheinungsbild meiner Person mit iPad intuitiv erfassen? Mit welchen Attributen möchten die zwei Gesellen mich bepflastern? Die Farbzeichnung des Kopfes in grau-weiß-schwarzen Übergängen bis zu den Nüstern, die den Charakter dieser Tiere zum göttlichen Kalb symbolisieren. Ich war entzückt, solch herrlichen Kreaturen begegnet zu sein.
In dieses paradiesische Betrachtungsempfinden, das sich beim Anblick dieser zwei Schönheiten (Kühe) in mir auslebte, die, so hoffte ich, meine Worte des Bewunderns sehr aufmerksam aufgenommen und mit Sicherheit gespürt hatten (ihr Antlitz ließ das vermuten), platzte Hans krachend in dieses imaginäre von mir gezimmerte Idyllenparadies hinein mit dem Argument, dass er zuvor von Karl zugeflüstert bekommen hatte, dass diese zwei von mir nun adoptierten Freunde hier in diesem Stall die letzten Stunden ihres Lebens verbüßen müssten. Ich wollte es nicht glauben und suchte mehr ihre Nähe.
„Sie werden zur Schlachtbank geführt“, so ging es permanent nun rauf und runter in meiner grauschwabbeligen Masse Hirn. Welch ein Paradigmenwechsel. Weil ich die Naivität besitze, dass das Erhabene, das Schöne, die Vollkommenheit, die ein Tier dem Menschen verständlich macht, niemals zum Opfer werden könne. Und Hans holte mich herunter vom Olymp des Gutmenschseins, indem er sagte „Das Amuse gueule, von dem Du heute Mittag bei unserer Tafelrunde gespeist hattest, ist von solch edlem Geschöpf.“ Da fiel mir Drewermanns „Psychogramm eines Ideals“ mit dem tiefgehenden Gedanken ein: „Mag sich dieses Leben im Untergrund auch durch Kampf und Tod erhalten, so preist selbst der geschnittene Strauch mit seiner letzten Kraft noch die Erscheinung seines Schöpfers im Vorübergehen.“ Ich war damit bedient. Ich blickte um mich und trollte mich zur nächsten Tür, einer Stallung, die durch den scharfen Geruch nicht verschweigen konnte, dass das kluge Tier Sau um Aufmerksamkeit bat. Sie gewährten mir ihre Audienz und ich begann, das Wort mit ihnen zu wechseln.
Das Verständigungspotenzial war der Sachlage zunächst angemessen und veränderte sich mit zunehmender Dauer meiner Standhaftigkeit in ein grunzendes Unbehagen, das von mir, da ich den sanften Ton bevorzugte, angemessen ignoriert wurde. Es konnte dabei festgestellt werden, Hans wusste davon, weil er zuvor mit Karl seine Inspektionsreise durch das Gehöft machte, dass es noch eine Muttersau gab, die ca. 30 Ferkelchen zu versorgen hatte. Ich kam dabei zu dem Entschluss, dass der hervorgetretene grunzende Unmut im Zusammenhang mit der Versorgungseinrichtung durch die Saumutter gekoppelt war. Vielleicht war auch hier und da ein Ferkelchen abhandengekommen durch menschliches Versagen, was der Sau zu Ohren gekommen war und sich auf einem silbernen Tablett verlaufen hatte, zur Freude der Artusrunde. Wer weiß das schon! Ich wollte, wie von Hans dringend empfohlen, eine Fotografie erstellen. Natürlich mit iPad, was wegen Lichtmangels nicht möglich war. Es war fast dunkel. Die Geruchsintensität tat ihr weiteres. So war ich in vorderster Reihe geblieben und erinnerte mich schnell an Oskar, so hieß eine Sau aus dem Mühlviertel in der Nähe von Linz-Österreich, wo ich mit meinem Lebensretter aus Linz, einen Müller in seiner Mühle besuchte, der selbstgebackenes Holzofenbrot, Geselchtes und einen Most zu präsentieren hatte sowie eine Sau, die, gestützt auf die Hälfte eines Holztores, das kulinarische Leben im Mühlenhof nicht nur eingesehen, sondern auch das Geschehen sehr teilnehmungsvoll bereichert hatte. Die wohlerzogene Sau Oskar lebte noch. Sein sanftmütiges honoriges artikulierendes Grunzen hatte etwas Beruhigendes.
Gleiches Wohlgefühl (außer der Duftkopfnote) hatten wir in der Pretzhof–Stallung, wo die drei Muttersauen ihren Abendsegen von uns erhalten hatten und sich auf den Nachtschlaf eingependelten hatten. Mit Sicherheit hatte man uns als störend empfunden, da half auch kein Abendsegen, und sodann zogen wir von dannen. Zum Fahrzeug zurückgekehrt, losgelöst von allen Reiseeinflüssen, wendeten wir uns nochmals um, den Blick gerichtet in die Abenddämmerung, zum Ort der Begegnung. Im Wissen, dass wir das Refugium am darauffolgendem Tag wieder erleben durften, als zweiten Akt mit der Begegnung von Sonja, der Haustochter. Während der Genussparade im Gasthaus hatte mir Karl das Handy gebracht, um der telefonischen Begrüßung die Aufmerksamkeit zu geben, die aus Apulien von Sonja an Hans und mich angetragen wurde. Unsere dankenden Gedanken an Sonja waren von großer Geduld und lohnender Geisteshaltung, die Stunde wird kommen.
Der abendlichen Verabschiedung Genüge getan, trollten wir uns von dannen mit der Ankündigung, anderen Tags um 10 Uhr auf der Matte zu stehen. Die nach unten führende Serpentine ins Wiesental gab mir die Möglichkeit, Augenblicke festzuhalten, die mich veranlassen würden, diese kleine Begegnungsgeschichte aufzuschreiben. Wir hatten etwas mehr an Zeit nach unten zu unserer Schlafstelle im Jägerhof aufgewendet als zum Aufstieg.
Im Jägerhof dann angekommen, wurden wir von zwei der Haustöchter mit einer angenehm freundlichen, ja herzlichen Note empfangen. Schnell wurde das Befremdliche gewandelt in eine Nähe von menschlicher Höflichkeit und Wärme, das einen alltäglichen, wohnlichen Charakter auslöste. Sie fragten uns, ob wir einen Wunsch hätten, „Derer so viele“ sagte ich, „aber im Moment regt sich nur innerliche Zufriedenheit, nachdem wie im Pretzhof waren.“ Mit dieser Feststellung war ich etwas voreilig gewesen, denn mein lieber Freund Hans musste sich nach den medizinischen Anweisungen richten, die ihn zur Aufnahme von Flüssigkeit ermahnten. Er fragte, ob ein Glas Bier zu bekommen sei. Im Chor, aus zwei beseelten Engelstimmen quoll hervor: „Welches der Biere wollen Sie haben?“ und zählten auf, welche Sorten im Kühlschrank lagerten. Er bestellte die Biersorten, die von den Engelchen bevorzugt angeboten wurden. Obwohl ich selbst nur in ganz seltenen Fällen dem Gerstensaft etwas zugetan bin, und wenn, dann nur, wenn es der Höflichkeit zugewandt ist, schloss ich mich solidarisch der Bitte von Hans an. Mir war bewusst, dass durch die Verwerfung der selbst auferlegten Bierabstinenz medikamentöse Befriedigungspillen erforderlich werden würden. Die Prävention lag darin, sollte sich zugleich oder auch in Abstand grenzüberschreitender Kopfschmerz einstellen, gäbe es eine Pille. Deshalb größtmöglichen Verzicht ohne jeglichen Genussverlust, selbst dann, wenn der Höflichkeitsdünkel zu etwas anderem veranlasst. Während wir, die Hausengelchen, Hans und ich, uns gemeinsam an einem Tisch parkten, erhielten wir einen historischen Geschichtsunterricht über die Region „Val di Vizze“. Das Glas Bier war genau richtig für diese zeitgenössische Unterhaltung über Land und Leute. Fragen und Antworten belebten die Tafelrunde, bis eines der Engelchen das Weite suchen musste. Die Familie ruft! Wir aber zeigten uns weiter interessiert für das Vergangene, so auch für mancherlei Lebensbiographien von Persönlichkeiten und deren determinierte Lebensveränderungen. Eine Dame aus der Region kam zu uns an den Tisch, eine Unternehmerin von sehr gutem Ruf, sie war etwas in Eile. Ich bemühte mich, etwas zeitlichen Aufschub zu erbitten, nachdem sie sich sehr engagiert zeigte, ihre derzeitigen Geschäftsinteressen in Katar und Dubai auszuloten. Da wir, DEKOMTE, selbst in dieser Region mit einer Tochtergesellschaft vertreten sind, konnte das Gespräch Bereicherndes als Ergebnis aufzeigen. In abwechselnder Weise des Luftholens konnten wir noch einen Blick auf die Mattscheibe werfen. Zur Zeit unserer Reise war die Fußballweltmeisterschaft in Brasilien zugange. Wenn eine wie auch immer vorgezogene Pause durch kurzfristigen Abgang auffällig wurde, um dadurch nicht eine gähnende Leere entstehen zu lassen, gab die Mattscheibe ein Überbrückungskonto, die Müdigkeit nicht angreifen zu lassen. Dieser Zeitimpuls war nicht im Rahmen einer Inflation zu sehen, vielmehr alles in einer akzeptablen Bemessung.
Wir waren gerade wieder in Unterhaltungslaune, als die Dame von unternehmerischem Charisma sich zur Verabschiedung bewegte. Danach kam eine zwölfköpfige Motorrad-Gang, Ladies und Gentlemen auf ihren heißen Öfen mit 650 ccm, in schwarzes Leder gehüllt. Dies veranlasste uns, die wir uns der Gemütlichkeit in geschwätziger Laune hingegeben hatten, das historische wie zeitgenössische Universum zu verlassen. So hatte auch dieses Intermezzo sein Ende, und die Müdigkeit trug ihr weiteres dazu bei, den Rückzug zum sanften Schlaf anzutreten. Hans und ich verständigten uns auf 9 Uhr Frühstückzeit mit der absichernden Frage an den Hausengel, ob dies so möglich wäre. Die Engelsstimme, mehr stimmliche Altistin als Mezzosopran, bestätigte uns dies in frohlockendem Aufblühen, als wäre sie auf der Kirchenempore, um das Halleluja von G.F. Händel anzustimmen. Dankend nahmen unsere Hände das Zeichen unserer Glaubenhaltung ein, wir drehten uns um und gingen im Gänsemarsch den Gang entlang, wo sich unser Etablissement befand. Ich konnte nicht ohne eine Bemerkung an dem Bild vorübergehen, das mir das Verständnis abtrotzte, die Verstümmelung des architektonisch, künstlerischen Bauwerks auszuhalten. Es war nunmehr nach 19 Uhr, wo wir unserer Beweglichkeit Raum gegeben haben. Ein neuer Tag wird kommen, und der abendliche Gruß, so auch des Dankes, ließ uns in unsere Zimmer gehen. Die Fenster, die ich bei meiner mittäglichen Ankunft geöffnet hatte, waren zu meinem Erstaunen und Wohlbefinden immer noch geöffnet. Diese Nachtruhe dürfte nur noch von den himmlischen Örtlichkeiten übertroffen sein, wo die längst entschwundenen Seelen ihr Hosianna bei Harfenklang jubeln. Ich dagegen begnügte mich mit Brahms Wiegenlied in eigener Belcanto-Improvisation und Interpretation. Auf Phrasierungen verzichtete ich wegen der Nachtruhe anderer, wobei Hans, auf der gegenüberliegenden Seite beherbergt, vielleicht seine Ohrwascheln hätte spitzen mögen, um dem Alltäglichen schnell zu entrinnen. Ich stelle nicht in Abrede, dass meine Vorstellung auch hätte umgekehrt sein können. Aber dafür gibt es ja schalldämmende Bettdecken, nämlich mit der Methode des über den Kopf Ziehens. Ich konnte noch nicht zur Ruhe kommen, weil ich mir einige Gedankenskizzen aufgezeichnet hatte, um nicht alles dem Zufall, der Erinnerung zu überlassen gedachte. Auch die Eindrücke, die sich am Tag zugetragen hatten, wie Anreise, Aufenthalt und Begegnungen waren erfüllt von Informationen, Neuigkeiten und Kontaktnahme, so dass es nicht ausbleiben konnte, alles nochmals in der Koje liegend in einem Mix Revue passieren zu lassen. Dazu das Gesäusel der spät abendlich geheimnistragenden Atmosphäre mit dem dazwischen aufschreckendem Geräusche eines wie auch immer ausstaffierten, motorisierten Lustmolches, der es noch nicht im Tagesgeschäft vollbracht hatte, seine Potenz signalisierend Etikette an die Dame oder Mann zu bringen. Aber solche Umstände raubten mir nicht den gerechten Schlaf. Mehr noch, die Geräuschkulisse begünstigte das Schäfchenzählen und ich kam nicht mehr dazu, kontrolliert die Zahl zu benennen, als es keine Schäfchen mehr gab.
Da ich schon immer ein Frühaufsteher war und ich keinen gewollten Geräuschgeber benötige, um die Nachtruhe zu unterbinden oder aufzuheben, wurde ich beflügelt mit der Stimmung, am Tag Neues zu erleben. Die Toilette, die zum Luxus avancierte, ward schnell hinter mich gebracht, schon deshalb, weil ich von Hans Lebensprinzipien wusste, dass er sich der Tugend „Morgenstund hat Gold im Mund“ akribisch verpflichtet fühlt. Und ich wollte ihm diese Einmaligkeit dieser lobenswerten Eigenschaft nicht alleine überlassen. Ich wusste ja nicht, ob er davon ausgegangen war, diese Eigenschaft ebenfalls mit mir zu teilen. Das war auch nicht Sinn einer Bestätigung. Und zudem war ja tags zuvor der Frühstückstermin auf 9 Uhr vereinbart worden. Als ich meine Maskerade und Montur soweit erledigt hatte, ging ich zum Fenster und plusterte mich gleich einem Vogel auf und füllte meine Lungen mit der jungfräulichen Morgenluft. Unrhythmisch umherwatschelnd mit den Händen, um die Luftzufuhr mit dem so belebenden Sauerstoffs zu gewährleisten, als wollte ich mich selbst vielfach umarmen, was dem narzisstischen Lebensempfinden Ausdruck geben könnte, so meine wenig medizintechnische Kenntnis.
Ich glaubte, gerüstet zu sein, um den morgendlichen Gruß dem verwunderten Hans in sein Schlafgemach entgegenzubringen mit dem Appell: „Morgenstund‘ hat Gold im Mund!“. Behutsam trat ich aus meiner Tür hinaus und pirschte über den schmalen Gang an die gegenüberliegende Tür, um hörend am Türblatt aufspüren zu können, ob sich da schon etwas rührte, oder ob der REM-Schlaf das Letzte an Dopamin ihn, den lieben Hans, noch in ruhender Gefangenschaft belässt. Schon die erste Hörprobe schreckte mich etwas auf und ließ mich zweifeln, ob das Hörbare dem Prüfungszweck entsprach. Ich stutzte, richtete den Kopf auf und konzentrierte mich auf vermutete Lautfaktoren im Gangbereich. Doch da war nichts, was meinen Zweifel hätte trüben können, um eine andere Schallquelle ausmachen zu können, als jenes Türblatt, dem ich mein Ohr zugewandt hatte. Ich wiederholte meine Absicht und lauschte mit angemessener Aufmerksamkeit. Wieder vernahm ich ein sachtes Gehen, vielleicht auch Schleichen. Es war ja früh am Morgen, 7.30 Uhr, obwohl 9 Uhr ausgemacht war, eine fremde Stimme, möglicherweise aus dem TV, ein Kruschteln, ein Hantieren, ein morgendliches Intermezzo ohne musikalische Höhepunkte. Die Verlautbarung, die sich aus dem Zimmer dezent feststellen ließ, verpflichtete zu der Vermutung, dass Hans quicklebendig seine Morgengymnastik unter Hinzunahme der TV-Nachrichten absolvierte. Ich klopfte etwas verlegen an, wartete nicht auf die Einwilligung, eintreten zu dürfen, öffnete einen Türspalt, linste in den Raum und sah, wie Hans sich befleißigte, Ordnung zu schaffen, als wolle er am selbigen Tag noch aufbrechen, um mit mir die Heinfahrt anzutreten. Ich registrierte sehr schnell ein solches Begehren und fand zu dem Konzept einer entwaffnenden Äußerung, nachdem ich den Morgengruß in rezitativer Weise vorgetragen hatte, mit dem da capo, dass ich beabsichtigte, länger zu bleiben als ursprünglich beabsichtigt, „…weil ich davon ausgehe und auch sicher überzeugt bin, dass Du, Hans, dieser frohen Botschaft aufgeschlossen, mit Freude garniert, das auch so möchtest, aber nicht den Mut hast, mir das vorzutragen, weil der Ansatz einer Stippvisite schon einmal kurz nach der Abfahrt im Gespräch stand. Ich bin sicher, dass Du sehr erfreut bis über diese glückselige Veränderung.“ „Nein, nein“, so sein zurückhaltendes Weheklagen, „wir könnten uns schon heute Nachmittag nach der Begrüßung von Sonja und dem feierlichen Genuss einer mittäglichen Tafelrunde auf den Weg machen, um den Heimweg anzutreten.“ Die Kunst beim Ausführen von Wiederholungen, so wie ich dies auch in der Musik erfahren habe, besteht darin, dieselben Noten mit denselben Vortragsbezeichnungen nicht identisch klingen zu lassen, also keine mechanische Gleichförmigkeit zu produzieren. Es war mir deshalb wichtig, die Abfrage zu starten, ob es schon möglich wäre, ein Frühstück einnehmen zu können. Hans, der meine eingeschränkte Beweglichkeit in einer liebenswerten Weise zu ergänzen wusste, nahm Orientierung auf, ob außer uns zweien noch andere Personen mit uns unsere Absicht teilten, ein Frühstück zu wagen. Während wir den Gang entlang gingen, erkundigten wir uns gegenseitig über die Schlafqualität, Schlafempfinden, Schlafrhythmus und deren zeitliche Auswirkung. Das Belohnende war übereinstimmend mit dem Hinweis, dass wir beide den Morgen nicht verschlafen wollten. Wir kamen zur Rezeption an der Holztheke, und ich drückte da auf so eine Rezeptionsklingel mit bangem Ton, schlaf ruhig, lieb Vaterland. So war auch die Reaktion. Hans setzte seine Erkundigung fort und stand plötzlich in der Küche mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen, das Vorfreude hat spüren lassen, dass wir noch nicht zu spät waren. Der Frühstücksraum war zu diesem Zeitpunkt (8 Uhr) noch nicht frequentiert, so dass man von einer Schlacht am kalten Büffet nicht ausgehen konnte. Wir zählten die Tische, die mit Geschirr dekoriert waren, und derer gab es nur zwei. Also alles sehr überschaubar, dafür sehr einladend. Ein Tisch mit zwei Gedecken und ein Tisch mir vier Gedecken. Wir entschieden uns für den Tisch mit zwei Gedecken am Fenster, was mit einem Lottospiel nichts zu tun hatte. An einem Frühstücksbuffet waren sehr dekorativ und ansprechend wohlriechende Brötchen gelagert, die auf ihre Abholung warteten und das Übliche an wohlschmeckendem Belag. Von der Butter angefangen bis hin zur Confiture. Was noch nicht den Einzug gefunden hatte, war ein duftender Kaffee. Hans begab sich alsdann in die Defensive und wartete geduldig am erwählten Tisch, bis eine sichtbare Erleuchtung im hohen Alter auf uns zukam, den Grüß-Gott-Gruß lispelte und mit der forcierten Nachfrage bemüht variierte, welches Getränk wir beliebten. Der christlichen Erhebung an uns, Gott zu sein, entgegneten wir zunächst mit einem frischen guten Morgen und erkundigten uns nach dem Befinden, was den erwarteten Zuspruch abkommentierte. Sie war die Dame des Hauses im hohen Alter. Wir bestellten Kaffee. In der Fortsetzung bescheidener Intonierung fragte uns die liebenswerte Dame, ob noch etwas anderes als das, was am Buffet gerichtet war, gewünscht war. Ich verneinte, und wenn ich mich recht erinnere, wählte Hans etwas Schinken. Backfrische Brötchen lächelten uns zu. Etwas Butter und Confiture, wie ich dies aus meiner Kindheit nicht anders kannte. Ein Erinnern an meine geliebte Mutter, die ebenfalls Confiture nach eigener Rezeptur selbst gemacht hatte und was bis heute bei mir zu Hause auch so gehandhabt wird. Keine Confiture, die nicht am eigenen Herd zubereitet wird. Wir gaben dem Frühstück in völliger Aufgelöstheit unsere Aufmerksamkeit, mit der quantitativen Zurückhaltung, dass uns in der Mittagszeit im Pretzhof eine Tafelrunde erwartete, wie wir diese tags zuvor durch variierende Köstlichkeiten erleben durften. Ein Gastmahl, kunstvoll bereitet durch Ulli, die herzerfrischende Dame des Hauses. Mit dieser gedanklich aufgebrachten Disziplin zur Mäßigung verführerischer Frühstückempfehlungen machten wir uns behäbig auf den Weg, um einen weiteren Grund zu beseelen, der dieser Reise zu Grunde lag, nämlich Sonja zu begegnen und zu begrüßen, die aus ihrem Urlaubsdomizil Apulien zurückgekehrt war. Wir musterten uns gegenseitig, standen vom Tisch auf, verließen den Raum und hatte das Vergnügen, einen Guten-Morgen-Gruß zu geben und zu empfangen von den guten Geistern des Hauses, die uns nochmals abfragten, ob wir gut geschlafen hatten und ob alles dem eigenen Wunsche gerecht war. Eine freundschaftliche Geste unsererseits in Wort und Handreichung besiegelte die Zufriedenheit. Wir traten aus dem Gasthaus heraus und wurden begrüßt von der freundlichen Sonne in Person, die sich vergnügte im Blumenmeer der vor dem Hause postierenden Gartenschalen und wir bestaunten den Blütenglanz, den die göttliche Natur uns zum Schauen bot.
Dann gingen wir begleitet von den Blicken der Blumendame zum Fahrzeug, um zu richten, was zu richten war. Da kam ein PKW geradezu zügig in den Hof gefahren, wo auch wir geparkt hatten. Eine stattliche, wohlgenährte Person entstieg dem Gefährt. Es gehört zu meiner Lebenseinschätzung, wo ich auch immer bin, Situationen zu schaffen, die es mir erlauben, Kognitionen zu Bereicherungen werden zu lassen. So konnte es nicht ausbleiben, mir durch einen kräftig schallenden Guten-Morgen-Gruß Aufmerksamkeit zu verschaffen, auf die eine Reaktion folgte. Die Frage „Ist alles zum besten?“ veranlasste ihn, uns mit Schritten näher zu kommen. Ich beglückwünschte ihn zu der Naturkulisse, die sich uns im Wiesen-Prati anbot. „Herrlich“ sagte ich, was dann seine Zunge löste und uns Wichtiges wie Interessantes zum Hören bot. Er war der Bürgermeister a. D., der uns etwas von seiner kulturellen, belebten und erlebten Lebensbiografie wissen ließ. Eine geistreiche, geistvolle Lebensgeschichte und Lebenshaltung, der man nur Anerkennung und Respekt entgegenbringen konnte. Wir verabschiedeten uns dann mit herzlichem Dank und mit der erwünschten Möglichkeit, ihm mal wieder begegnen zu wollen. Dann trennten sich unsere Absichten, wir verfrachteten uns ins Auto und fuhren den Weg, der tags zuvor ausgekundschaftet wurde. Ich hatte mir Merkmale eingeprägt, damit Sackgassen vermieden und ein zügiges Vorankommen gesichert war. Während der Fahrt vom Jägerhof in die Höhen zum Pretzhof versuchte der liebe Hans, mich mit rührseligem Ton zu einer Umstimmung zu bewegen, wobei er hier auf taube Ohren gestoßen war. Vielmehr kehrte ich zu meiner Verlängerungsthese zurück, die nicht als drohende Gewitterwolke am fernen Horizont gedacht war, sondern sich ihm als eine Möglichkeit bieten sollte, sein eigenes Bedürfnis, nämlich zu bleiben am Ort, der ihm zusätzlich Geborgenheit verlieh, zu befriedigen. Allein die frivolen Gesichtszüge verrieten, dass das Gegenteil einer Heimfahrt nicht ganz ausgeschlossen war. Also eine Komödie mit besonderem ironischen Inhalt, die in einem Bauernstadel mit deren Ureinwohnern zu schenkelklatschender Belustigung und Euphorien hätte führen können.
Während der Fahrt im Schritttempo nach oben durchpflügten unsere Blicke all das, was wir schon von dieser Landschaft kannten, nicht nur das Archaische, das Pittoreske, das Idyllische, sondern auch die durch katastrophenbringende Naturgewalt entstandene Charakteristik dieser Region, die auch unseren Augen nicht entgangen war.
Angekommen im Pretzhof versammelten sich all die freundlichen, herzlichen, liebenswürdigen Geister von Familie Ulli & Karl Mair, bei der jüngsten Generation angefangen, bis hin zu den Mitgestaltern, die dem Haus Pretzhof zu dem Ruf und der Ehre verholfen hatten, wie es in der TV-Sendung in Arte dezidiert dargestellt wurde. Und dann die Begrüßung, die in den Filmszenen von Rosamunde Pilcher hätten nicht besser ins Licht, ins Bild gesetzt werden können, als dies der entgegengebrachten Herzlichkeit angemessen war. Bei meiner über die Jahre in Wort und Schrift ständigen liebenswürdigen Begleiterin Sonja verdoppelte sich die Herzlichkeit in der Begrüßung, die ich über die Kommunikation immer wieder aufs Neue erfahren hatte. Und wie lautet es so nachsinnend: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“ Und das ist das ungeschriebene Familiengeheimnis von Menschlichkeit und Empathie, dass sich aus der Tradition und aus der Historie seit dem 13. Jahrhundert als Lebensgrundlage in dem Pretzhof und seiner Gestalter erschließt.
Als besonderen Morgengruß garnierte Karl seine Theke mit Weinflaschen aus der Region Barolo, um mir die Möglichkeit zu geben, das Besondere dieses Weines zu erfahren, nachdem ich tags zuvor meine Zurückhaltung und meine Genussabschwächung hinsichtlich italienischer Rotweine kundgemacht hatte.
Natürlich gibt es hervorragende Rotweine auch in Italien, wie Masseto Tenuta dell’ Ornellaia oder Tignanello, das ist gar nicht in Abrede gestellt. Der Barolo, das ist ein subjektives Genussprofil, das da spricht, erweckt für mich nicht den Reiz des Besonderen. Unkenntnis, wie Karl es mir verdeutlichte und ließ mich verkosten, was er an Qualitäten aufgereiht hatte. Und dann ein Aha-Effekt! Ein Barolo Ravera Vietti, der durch ein vorzügliches Aroma schnell unsere, oder meine Zurückhaltung zerstreute. Am frühen Morgen, als wir die Genuss-Synapsen zum Verkostungstest und mit der Absicht, gegenüber jedem Vorurteil erhaben zu sein, angetreten waren, waren wir, Hans und ich frohen Mutes. Wir nutzen den Augenblick der häuslichen Entspannung und Ulli, die Hausdame von besonderer Liebenswürdigkeit, gab Einschätzungen zur Biografie des Hauses. Ich war von der Geschichte so gefesselt, dass Karl, der Herr des Hauses, mir eine Lektüre, nämlich die Chronik vom Pretzhof zur Hand gab, der ich mich im Augenblick von Ablenkung vertieft zur Wissensförderung und -erweiterung zuwandte. Dass es noch verhältnismäßig früh am Tag war und die Genusssuchenden sich noch auf Wanderschaft oder wo auch immer befanden, hatten wir noch die ungezwungene, ja einladende Möglichkeit, das Ambiente des Hauses einzusehen. Urgemütlich an jeder denkbaren und einsehbaren Ecke, geschmückt mit nostalgischen Accessoires, Bildern, Urkunden, Skulpturen und historischen Arbeitsgeräten. Erinnerungen längst vergangener, von Nostalgie behafteter Zeit. Nachdem wir im Rahmen frühzeitlicher Verhaltenmaßnahmen im Umgang mit Alkoholischem zu tun hatten, war es dem Gebot der Gastfreundschaft und der entgegengebrachten Höflichkeit geschuldet sowie auch gegenüber uns selbst, die Contenance bis in die Haarspitzen zu wahren, was uns ohne jedwede Anstrengung auch gelang. Wir stellten unsere Weinbegehrlichkeit zurück, bis uns der Mittagstisch zum Opfer der Genüsslichkeit heimsuchte. Und wir ließen es geschehen. Zuvor hatte ich angemerkt, dass dieser herrliche Barolo, den Karl für seine Gäste von einem Winzerfreund erhält, meine Begehrlichkeit fütterte, und ich gewillt war, davon welchen mitzunehmen, so dass dieser meinen Weinkeller zieren möge. So geschehen. Nachdem Ulli sich wieder der Küche gewidmet hatte, Karl uns noch aus der Chronik berichtete und Sonja mit ihren Kolleginnen langsam die Tische für den Mittagstisch eingedeckt hatte, zogen wir es vor, nach draußen zu gehen, um nicht nur dem landwirtschaftlichen Sauerstoff zu huldigen, sondern auch das Panorama als Kulisse des Naturtheaters Pretzhof auf uns wirken zu lassen. Eine massive Tisch-Stuhl-Komposition aus Holz sowie eine Bankgarnitur zierten das Forum, an dem wir in erster Reihe Platz genommen hatten.
Hans machte sich sachkundig über die archaische Gestaltung des Hofes, und ich bat ihn, einige verwendbare Fotos mit dem iPad zu machen. Das Ergebnis seiner künstlerischen Fotoaktivität hätte wohl keinen Fachexperten vom Sitz gerissen, was auch nicht gefordert war. Der Zufall, wenn es so etwas geben sollte, regelt so manches für den Betrachter. Man kann sich ja inspirieren lassen, wie und was gemeint war. Der Wille war hier im Vordergrund. Und der kam voll zum Tragen. Wichtig war, dass ich einige Schnappschüsse von dieser auserwählten Landschaft hatte. Und das war Freude genug. Während wir so am Tisch saßen, kam ein älterer Herr in die Nähe unserer Sitzordnung, den Hans als den Vater von Karl Mair erkannte, und wir baten ihn an unseren Tisch. Ich witterte sofort archaische Momentaufnahmen historischer Lebenserkenntnisse, almbäuerliche Entwicklungsgeschichten, die uns das gegebene Landschaftsbild kulturell verstehen ließen. Alles in einer fragmentarischen Wiedergabe, die nur im Ansatz erahnen ließ, welche Mühen, welcher Fleiß, welche Not, welcher Überlebenskampf von denen erbracht worden war, was sich aus der Neugierde entfaltet. Die Menschen vom Pretzhof wurden nicht gefragt, ob sie das wollten oder ob es wohl gerecht war, was ihnen zugefallen war. Es war eine Bestimmung, so hörte ich aus den Worten, die der betagte Weise mit seiner gezeichneten Würde sagte, dass die Lebenskunst, seine Lebenskunst darin bestand, die Verantwortung zum Erhalt und zur Entwicklung des Ganzen verstehen ließ.
Die auferlegte Lebenssituation hatte ihn dort hingebracht, wo er nun bleiben wollte, bis sein Drehbuch das Ende gefunden hatte. Nach dem Erzählten weilte ich vorerst in der Dunkelheit, aus der es mühsam war, in eine Grauzone zu kommen, die etwas Licht vermuten ließ. Und so nahm er seinen Hut und wanderte zielstrebig an den Ort im Gehöft, von dem ich annahm, dass er dort noch Besorgungen zu erledigen hatte. Ich kann mir vorstellen, dass seine Hände und deren Beweglichkeit Gradmesser waren, seinen eigenen fortgeschrittenen Gesundheitszustand zur angestrebten Aufgabe angemessen zuordnen zu können.
Währenddessen hatte mein Freund Hans die Einladung von dem ins Alter gekommene, markante, würdevollen Greis angenommen, eine Hofexkursion durchzuführen, so dass ich mich unterhielt, je nach Zeitpausen, mit Ulli, Sonja oder Karl, um Erkenntnisse zu sammeln, die mich befähigten, das Bild des Pretzhofs in seiner historischen Geschichte zu erfassen. Da kam plötzlich eine geradezu elegante, charmante Dame den schmalen Weg an der Gebäudereihe entlang und warf in angenehm freundlicher Gesichtsharmonie einen Blick auf uns und auf die Holztischplatte, auf der ein aufgeklapptes iPad ihr Interesse zur Aufmerksamkeit bewegte. Sie verzögerte ihren Laufrhythmus, als hätte sie ein intuitives Signal erhalten, dass die Lieben am Tisch anstehende Freude bereithalten würden. Die Dame reduzierte ihren Schritt in eine Zeitlupenbewegung, was es mir möglich machte, zunächst einen herausfordernden Guten-Morgen-Gruß abzusenden, mit der Erwartung einer Erwiderung, was auch im zarten Ton, der Dame angemessen, erfolgte. Auf einen weiteren, in Harmonie und Belcantoton angepassten Zuruf: „Wie geht es Ihnen?“ kam, wie nicht anders erwartet, die Antwort, unter Veränderung der Schrittfrequenz und Richtungsänderung hin zu unserem Tisch. Es war eine Dame mit einem klassischen, römisch anmutendem Persönlichkeitsprofil und Stil, mit einem auch in den Farbnuancen abgestimmten Äußeren, von der Sohle bis zum Scheitel, die am frühen Morgen den Frühstücksraum mit angenehmer Strahlkraft auf uns mit Aufmerksamkeit belegte.
Nachdem sie uns am Tisch etwas Gesellschaft geleistet hatte, fragte ich sie zunächst, ob sie schon des Öfteren hier gewesen war und welches Interesse sie hierher führen würde. So waren es die familiären Gründe, die der Sohn zu organisieren pflegte. Ihr Sohn wurde begleitet von zwei Kindern im heranwachsenden Alter. Sie hatte ihre Bleibe in der Nähe von Frankfurt am Main, in der Region, wo wir selbst unsere Zelte haben. Währen wir zunächst die Beliebigkeitskommunikation als angenehm und unterhaltsam empfanden, entging es meiner Wachsamkeit nicht, dass sich die Blicke der netten Dame auf das iPad konzentrierten, das Kunstwerke in sich gebunkert hatte, um meinen lieben Freunden vom Pretzhof das zu unterbreiten, was zu meinem persönlichen weiteren Lebensinhalt zählt, nämlich die Kunst der Künstler in ihrer kreativen Vielfalt. Ich konnte es mir nicht verkneifen zu fragen, ob sie sich für Kunst, und falls ja, für welche Art interessieren würde. Das Ergebnis ihrer Antwort war eindeutig und erfreulich. So sprach ich eine Einladung in die Auberge de Temple aus, um die Originale anschauen zu können, die im Laptop veranschaulicht waren.
Da sich der Mittagstisch ankündigte, gab ich ihr die Visitenkarte, um die angenehme Verbindung weiterzuführen. Nachdem der belebten und bereichernden Worte genug getauscht waren, empfahl sich die Dame, um der Verabredung mit dem Sohn und dessen Kindern zu genügen. Der Abschied war erfüllt mit dem Inhalt der Freude, sich im Raum Frankfurt wiederzusehen.
Alsdann kam Karl auf uns zu, um uns zum Tisch zu bitten. Zuvor hatte mich Hans gebeten, ihm auf dem Fuße zu folgen, um vielleicht noch einige Fotos zu machen, die es später in Erzählungen in einem Schrifttum möglich machen würden, den Inhalt des Erzählten durch Fotodokumente erlebbar zu machen. So stand ich vor einem Backofenhäuschen aus längst vergangenen Zeiten, das sich wie ein Schmuckstück malerisch in die Almenlandschaft mit dem Gehöft einfügte.Dann eine Räumlichkeit, die des Jägers Aufenthalt in der Natur durch seine Trophäen nicht verkennen ließ.
Danach ein Schuppen, wo das Alte sich mit dem notwendigen Neuen zu einer Art Baustilsymbiose feststellen ließ, damit die über Jahrhunderte erforderlich Funktion einer Remise weiterhin erfüllt sein konnte. Dann die Gerätschaften, die durch das Dach der Remise ihren Schutz vor den Naturgewalten fanden, die sich in dieser Region unberechenbar erfüllten.
Wir gingen zurück, wo wir Einlass hatten in die, so muss ich es sagen, archaisch getönte, gewärmte räumliche Atmosphäre. Auch hier hatte ich mich nochmals mit dem Zierrat an den Wänden sachkundig in Verbindung gebracht.
Langsam aber stetig besetzten sich die Tische mit den antanzenden Gästen, die von einer magischen Hand in eine Choreographie gelenkt wurden, was ein fröhlich anmutend erscheinendes Bild ergab und was sich wiederfinden lässt in den impressionistischen Werken eines P. A. Renoire, z. B. Bal au Moulin de la Galette oder auch das Paradiesgärtchen von Christoph de Temple. Die mündigen Zecher, aus allen Richtungen zusammengewürfelt genießen die Gemeinsamkeit, wo der Einzelne durch seine Lebenslust den tanzenden Reigen „dem Schönen zur Köstlichkeit“ widmet. Immer wieder kamen weitere Gäste, die sich von einem ausgedehnten Spaziergang mit neuer Lebensenergie am Tisch im Gasthof Pretzhof labten. Ein permanentes Kommen und Gehen von herrlichen Ausgezehrten, wie es sich uns aufdrängte.
Auch wir, Hans und ich, hatten unseren zugewiesenen Platz eingenommen. Jeder für sich kontrollierte unauffällig mit gekniffendem Auge die gelebte, belebte Atmosphäre, und wir registrierten, teils mit Staunen und teils mit Überraschtsein, was da so von den Gästen konsumiert, gespeist und getrunken wurde. Nur Vermutungen konnten das Ergebnis sein, das uns gegenseitig befruchten sollte, um eine waghalsige Geschmacksprognose der vielseitigen, im Raume ansässigen Individuen anstellen zu können. Nur hier und da ein Schmatzen, ein Schlürfen, das unterschiedlich gedeutet werden konnte, entweder zu heiß, oder der Heißhunger hatte die Zecher zur Fresslust getrieben oder beides zusammen.
Freund Karl brachte uns die Speisekarte, die wir nicht eingesehen hatten, weil der liebe Karl die Freiheit hatte, aus der Erfahrung des Vortages alles auf den Tisch zu bringen, von dem er überzeugt war, dass es unsere Zufriedenheit sicherstellte. Was beachtet werden musste, waren die Zeitintervalle, die auf Hans‘ Gesundheitszustand abgestimmt waren, um auf die notwendige regulierende Esskultur Einfluss zu nehmen. Wasser und Rotwein aus dem erlesenen Sortiment, im Weinkeller gelagert, was tags zuvor und am frühen Morgen bei der gut situierten Weinprobe sein Ergebnis zur Bestellung fand. Kaum hatten wir unsere Zusage der von Karl offerierten Genussvorschläge gegeben, schon begannen mit dem Hors d’oeuvre die auserlesenen Kompositionen von Speisen aus Ulli‘s Kochatelier. Ein Genusserlebnis, das gegen 12.30 Uhr begann und gegen 17 Uhr endete. Uns fiel beiden auf, dass trotz der Vielzahl der speziellen Delikatessen, die den Mittagstisch säumten, uns keinerlei Völlegefühl, kein Unwohlsein zum Bedauern veranlasst hatte. Die geradezu quellende Leidenschaft, die Hans zum Versuchtsein trieb, mich zu einer reduzierten Zeitdistanz des Aufenthalts zu gewinnen, war nach diesem Tafelgelage nicht mehr opportun. Wenn ich nicht selbst nach der Rückkehr längst vereinbarte Termine gehabt hätte, wäre ich bei Hans mit einer Verlängerung bestimmt nicht auf taube Ohren gestoßen. Das gelebte Ambiente hätte seinen Standpunkt vielleicht bröckeln lassen. So nahm ich ein solches Begehren aus taktischen Gründen gar nicht in den Mund, um mich selbst nicht in eine Zwickmühle zu jonglieren.
Da wir uns während einer Espressophase schon psychisch auf die Heimreise eingestellt hatten, um die Voraussetzung zu treffen, ausgeruht die Rückreise antreten zu können, kamen wir langsam und gemächlich auf die Beine, um das Verabschiedungszeremoniell einzuläuten. Bei Sonja und Karl hatte ich noch meine Bitte geäußert, Köstlichkeiten aus dem Hofladen, der von Sonja betrieben wird, abzugreifen. Dies nicht nur als Wegzehrung, denn dafür gab es gar keinen Anlass, sondern vielmehr, um die erlebte und gelebte Genussatmosphäre Tage danach noch nachwirken zu lassen. Da ich mich zuvor über die Jahre der Teilabstinenz per Post mit den Pretzhofprodukten minimalisiert eingedeckt hatte und lieben Freunden bei einem Tischgespräch davon erquicken ließ, hatte ich so eingekauft, dass dann mein zu erzählendes Erlebnis aus Südtirol einen Nachweis bekommen konnte durch eine gereichte Geschmacksgefälligkeit. Also nahmen wir die Bürde auf uns, in liebevoll herzlicher Weise Abschied zunehmen von Ulli, die uns von der Erde auf dem Weg durch ihre Kochkunst in den Genusshimmel begleitet hatte und von Sonja, Nora, etc., die es verstanden hatten, dem Service als schmückendes Beiwerk Edles zu verleihen. Vollendet in der Regie von Karl. Als wir die Stätte der Erlebnisse, der Besonderheit melancholischer Lebensweisen mit Wehmut, mit bedächtigen Schritten verlassen hatten, konnte ich es nicht versäumen, Abschied zu nehmen von den zwei wunderschönen Geschöpfen im Stall, die dem Himmel zu dieser Stunde näher waren als die Wiese auf der Alm.
Ich wechselte das Wort des Nichtverstehens und es war merkwürdig festzustellen, welche Aufmerksamkeit sie den beiden Freunden, Hans und mir, entgegengebracht hatten. Das Glück, was ich beim Anblick dieser Geschöpfe empfand, liegt für viele unserer Mitbürger und den Einkehrenden in den Pretzhof auf dem Teller.
Auch ich mache da keine Ausnahme, wenn auch sehr, sehr zurückhaltend. Während Karl und Hans zum Auto gingen, um das zu verstauen, was im Hofladen den Eigentümer gewechselt hatte, blieb ich noch bei denen, von denen ich in der Tat Abschied zu nehmen hatte, und nur die Fotos zeugen von dem, was mich nun betrübt. Nicht Wehmut, nein Wehschmerz machte sich Platz in meiner Seele. Jetzt gehen, wo mich das Fragen „Warum nur?“ in Unordnung bringt. Dann trottete ich mit behäbigem Schritt von dannen und blickte immer wieder zurück, wo ich das Glück und Unglück der Kreatur erfahren durfte. Es ist schon viele Wochen her, wo ich die Welt, meine Welt, wie ich sie mir gestalten möchte, erleben durfte und nichts ist aus meinem Gedächtnis gewichen. Eine herzliche Verabschiedung mit dem Schwur, sich wieder zu begegnen. So bestiegen wir den Wagen und hatten den Plan, noch einige Schnappschüsse von dieser Landschaftsidylle zu machen. Wir fuhren im Schritttempo an den weiteren Gehöften, an der Kirche, an Stallungen, ins Wiesental herunter und waren beschattet durch christliche Kunstzeichen, die sich dem Betrachter nahtlos in verzierender Weise durch Bildstöckel als Wegweisungen in der Naturlandschaft anboten. Die Überreste von Geröll an den Rinnsalen der Wiesen, die die letzte Naturkatastrophe zurückgelassen hat, sollten nicht verschwiegen sein. Mein Eindruck sowie der gegebene Ausdruck dieser Landschaft verführte mich in das künstlerische Lebensgefühl der sich im 19. Jahrhundert entwickelten Stilrichtung. Ein genialer Künstler wie Ernst Ludwig Kirchner, den ich persönlich sehr zu schätzen weiß, war den belebenden Inspirationen zugetan, die er in seiner Wahlheimat Davos gleichermaßen erleben durfte, wie mir das Landschaftsbild aus Wiesen-Prati als Pate gestanden ist. So kamen wir langsam aber zielstrebig dem Haus nahe, das uns ein Dach über dem Kopfe gab – dem Jägerhof. Wir wurden wieder begrüßt und herzlich aufgenommen von einer der Töchter der erfrischenden Familie Graus. Natürlich hat man uns gefragt, wie wir den Tag verbracht hatten. Das fragmentarisch Zusammengefasste, das sich auf das Wesentliche der Eindrücke beschränkte, skizziert ein Drehbuch, das eine Dokumentation beschreibt, die nicht dazu geeignet scheint, sich an einem Film von Niederungen zu versuchen. Vielleicht bin ich ein hoffnungsloser Romantiker, bei dem nicht ausgeschlossen ist, dass der visuelle Verschleiß nicht ohne Folgen bleibt. Aber das muss man aushalten können, auch jene, die sich im Jägerhof noch zu einem Glas Bier am Tisch zusammengefunden hatten. Jeder hatte sein eigenes Realitätsempfinden zu dem, was die Erzählung zum Tagesablauf im Pretzhof, von Hans und mir vorgetragen, hinterlassen hatte. Wenn Menschensympathie gegeben ist, habe ich gerade denen die Möglichkeit gegeben, sich über Erzählungsperspektiven vertraut zu machen und sich über die Inhalte zu erfreuen, damit sich Freundschaften gründen können, und dies auf hohem Wert. Während wir am Tisch saßen und das kühle Bier schlürften, versuchte sich in mir eine Melodie zu erheben, die ich aus meiner Bundeswehrzeit kannte, das Zapfenstreich-Gedudel. Ungeachtet der Nichthörenden machte ich dennoch auf mich aufmerksam mit der Frage „Wie spät haben wir es denn?“ Eine der beiden Schwestern der Familie Graus blickte auf die Armbanduhr und ward erschrocken, da der Zeiger weit über das akademische Viertel gelaufen war, das man einplanen kann, ohne sich bei einer Verspätung krumm zu legen, nach dem üblichen Verhaltensmuster, sich um Ausreden zu bemühen. Sie begründete ihre Schreckhaftigkeit mit der Feststellung, dass ihr Kind schon auf sie warten würde. Und dieser aufgrollende Kummer war schon glaubwürdig, sie huschte schnell davon, während uns die gebliebene Schwester noch aus der Familienchronik einiges zu berichten wusste, was zumindest meine Aufmerksamkeit schärfte. Ich hatte den Eindruck, dass Hans durch meine Zeitfrage am Tisch mehr beunruhigt war, als er mir mitteilen wollte. Den Zeitpunkt der Abfahrt hatten wir auf den kommenden Morgen um 9 Uhr verabredet, was uns beiden gepasst hatte und wir dies auch so mit der freundlichen wie charmanten Tochter des Hauses abklärten. Wir saßen noch am Tisch, das Bier war noch nicht zur Neige gegangen, und Hans fragte zu meiner Verwunderung, ob er noch eine Scheibe Brot haben könnte. Fast einem Jubelschrei gleich, als hätte die Haustochter darauf gewartet, uns bzw. Hans noch eine Abschiedsfreude machen zu können, zählte sie mannigfach auf, mit welchen Genüsslichkeiten sie das Brot belegen könnte. Ich konnte in Hans Gesicht erkennen, dass es ihm etwas unpässlich war, den vielfältigen Vorschlägen zu folgen, die seine Brotbitte ausgelöst hatte. Doch Hans entschied sich für Schinken. Ich ahnte schon, was nun kommen würde und hatte der Hoffnung Verlangen zugesprochen, dass außer dem Schinken auch das Brot zu finden sein würde. Es dauerte nicht lange, und die Größe des Tellers gab Zeichen, dass das Brot, um das Hans gebeten hatte, der Tellergröße nicht entsprach. Schinken, sehr fein aufgeschnitten und Beilagen, alles sehr appetitlich und ausreichend, verdeckten zunächst das Brot. Und dennoch – die Augen von Hans leuchteten. Er fragte mich „Möchtest Du davon essen?“ Ich verneinte mit Würde, mit der Begründung, dass ich noch sehr satt sei von der nicht enden wollenden, ausgiebigen mittäglichen Tafelrunde und auch schlafen gehen wollte. Hans grinste, und ich wünschte ihm einen guten Appetit. Ich wusste, warum die Essens-Zeitschiene für ihn so wichtig war.
Man kann in unseren Gesichtern lesen, dass wir eine Welt suchen, jeder auf seine eigene Art, wie unser Traum sie wünscht. Aber auch das ist uns sehr realitätsbewusst, dass Träume Träume bleiben. Der letzte Rest des Biers hatte seine Schuldigkeit getan, und die Nachfrage, ob es denn geschmeckt habe, verklang, während dessen wir uns erhoben hatten, um Brahms Wiegenlied anzustimmen und die begleitenden Gutnachtwünsche zu vermelden. Eine sanfte Umarmung sollte den Gutnachtsegen der Erdenengel inbrünstig begleiten und erwärmen. Dann zogen wir uns zurück, den Gang wie gewohnt entlang zu unseren Zimmern, um im gegenseitigen Dankbarkeitskult händereichend das Gloria-Halleluja als Gutenachtgruß zu verkünden. Eine kurze Terminbestätigung nochmals, und die Türklinken öffneten die Türe, und ein Luftstrom kam mir entgegen.
Wie tags zuvor stand ich vor dem geöffneten Fenster, meine sehnsuchtsvollen Blicke wanderten in Richtung Pretzhof, der sich hinter dem Berghügel versteckt hält. Ich bin leer und etwas müde, und die Erinnerung findet in mir selbst seinen Abnehmer. Im Moment der empfundenen Leere muss die Effektivitätsschraube mit der Sensibilität der Machbarkeit und Zumessung neu justiert werden. Mit dem Empfinden einer gewissen Angegriffenheit versammelte ich mich am Waschtisch, um der Toilette die Gebrauchsnote zu geben, entledigte mich der Tagesmontur und tauschte dies mit dem Schlafrock, der kein Rock war. Während ich nochmals in das dunkel gefärbte Firmament blickte, erlebte ich ein Verhalten, das dem künstlerischen Denken und Leben sehr entgegenkommt. Der Tag ist gewesen. Es ergriff mich wie so oft in solch einer vertrauten Atmosphäre ein beglückendes Gefühl einer wohltuenden Befriedigung glücklicher Umstände. Und nun, eine Ruhe, eine unendliche Stille, eine bevorstehende und gewollte Einsamkeit war plötzlich der Mittelpunkt meines Daseins geworden, der zum Liegen mich befahl. Ich brauchte keine Schäfchen zählen.
Der morgendlich ritualisierte Maskenball begann mit der Atemübung am offenen Fenster und setzte sich fort in der Nasszelle bis hin zur Wahl der Manschettenknöpfe. Wie am Vortag war ich wieder viel zu früh, was sich in Verbindung bringen lässt mit der Bettflucht, wie diese auch immer begründet ist. Ich prüfte meine morgendliche kritische Empfindung gegenüber der bevorstehenden Beabsichtigung, die Heimreise anzutreten. Dazu gehörte auch das Einsammeln und Packen der Kofferutensilien. Als ich damit fertig war, kam seltsamerweise etwas Freude auf durch das eingelöste Versprechen, mich bei den Lieben im Pretzhof gezeigt zu haben. Nochmals ein Blick aus dem Fenster mit der Absicht, den Eindruck einzufangen, den ich nach dem bevorstehenden Frühstück als Gepäck mit nach Hause nehmen würde. Ich verließ meinen Raum, aber nicht, bevor ich alles so gerichtet hätte, dass Hans meine sieben Sachen aus meinem Zimmer entfernen konnte, gleich nach dem Frühstück oder Sättigungsakt, um diese in den Wagen zu bringen, währenddessen ich die Rechnung beglich. Ich klopfte an die Zimmertür von Hans, wartete kurz, öffnete die Tür und wie erwartet stand er in der Mitte des Raumes, einen „Guten Morgen“ auf den Lippen, schon in voller Montur abfahrbereit, seine Mitbringsel gepackt. Ich fragte „Können wir zum Frühstück gehen?“ „Ja, ich bin fertig“ sagte Hans und trat mir entgegen, so dass wir den Gang entlang zum Frühstücksraum gelangten, der schon auf uns wartete. Der Tisch war einladend gedeckt. Mutter, Tochter und Schwiegersohn empfingen uns mit der Frage, ob wir gut geschlafen hätten und was wir zum Frühstück wünschten außer dem, was schon auf dem Büffet angerichtet war. Wir hatten uns nochmals für den geschmacklich wundervollen Schinken entschieden, der aus dem Haus Pretzhof stammte. Es war meine Absicht, ohne unbeabsichtigte Verweilzeiten, die auf einer Autobahn immer wieder auftreten können, direkt den Ausgangspunkt der Reise anzusteuern. Das setzte voraus, dass ein nahrhaftes, nicht allzu üppiges, belastendes Frühstück zu empfehlen war. Dem hatten wir entsprochen. Es war uns nicht fremd zu wissen, dass so ein Reiseereignis je nach Intensität so manche Blessuren schafft. Das veranlasste uns, nur die Fehler zuzulassen, die uns zu neuen besseren Erkenntnissen gebracht hatten mit dem Ergebnis, eine solche Reise immer wieder in Betracht zu ziehen. Nachdem die morgendliche Energiezufuhr ihren Abschluss gefunden hatte, waren Hans und ich damit beschäftigt, die Tätigkeiten abzuhandeln, die zuvor abgesprochen wurden. Der Aufbruch zu Heimreise setzte den herzlichen Dank für die Unterbringung und die menschliche, geradezu liebenswerte Verabschiedung voraus, wodurch die erkennbare Wehmut sichtbar zurückgelassen wurde. Nachdem wir die Schwellen des Jägerhofs gemächlichen Schrittes den Rücken gekehrt hatten, fühlte ich, was mit Worten nicht zu begreifen ist.
Günther de Temple
Isabel